Theaterpredigt zur Oper „Strandrecht“ von Ethel Smyth
16. Februar 2025
1. Eine flammende Seele
„Ethel Smyth hatte eine flammende Seele. Sie brannte ununterbrochen, ob sie komponierte, ob sie schrieb, ob sie als Suffragette agitierte, ob sie mit einer Art Kimono ein Orchester dirigierte, oder ob sie sich unterhielt.“ So beschrieb Bruno Walter, Kapellmeister des Leipziger Gewandhauses (1929–1933), Chefdirigent der New Yorker Philharmoniker (1947–1949) die Komponistin Ethel Smyth. Bruno Walter engagierte sich sehr für Ethel Smyth und ihre Musik. Es war allein der Ausbruch des 1. Weltkrieges, der eine Aufführung der Oper „The Wreckers“, die hier in Schwerin unter dem Titel „Strandrecht“ gerade mit so großem Erfolg aufgeführt wird, unter seinem Dirigat verhinderte. In der Theaterpredigt heute ist weniger der Raum, sich mit dem spannenden - und auch gespannten, nach dem Eindruck mancher Ihrer Zeitgenossinnen wohl auch: überspanntem[1] - Leben von Ethel Smyth zu beschäftigen, sondern heute und hier soll ihre Oper „Strandrecht“ im Mittelpunkt stehen. Und so belassen wir es fürs erste mit einer Kurzbeschreibung, die die Journalistin und Sozialwissenschaftlerin Judith Kessler so auf den Punkt gebracht hat: Ethel Smyth *23.April 1858, gest. 1944 „Komponistin, Dirigentin, Literatin, Feministin, Teilzeit-Suffragette, Patriotin, Kettenraucherin, Whiskey-, Frauen-, Hüte- und Hundeliebhaberin.“[2]
Eine kleine Kostprobe originaler Worte (ins Deutsche übersetzt) von Ethel Smyth will ich Ihnen aber nicht vorenthalten, zumal sie auch einen Eindruck bieten von ihrer Gabe, fesselnd zu schreiben. Zugleich wird dabei ihr typisch britischer Humor deutlich, wie in Fans der Serie „Downton Abbey“ bei Violet Crawley, kongenial verkörpert durch die Schauspielerin Maggie Smith, erleben konnten. Und zugleich bietet dieses Zitat einen kleinen Link bieten zu dem, was uns heute beschäftigen wird: ein paar Blicke aus theologischer, evangelischer Sicht auf ihre derzeit hier in Schwerin so fulminant inszenierte und aufgeführte Oper. Denn Ethel Smyth macht in ihrem Zitat aus dem Buch Female Pipings in Eden im Jahr 1933 gleich einmal deutlich, was bei der Schöpfungsgeschichte aus ihrer Sicht hätte besser laufen können: „Ach, wenn Akt I, Szene 1 des menschlichen Dramas nur sorgfältiger durchdacht worden wäre, was für glückliche Tage hätte man in Eden verbringen können! […] Sie und Adam hätten sich in verschiedenen Ecken des Gartens (so weit voneinander entfernt wie möglich) schalldichte Hütten gebaut, und gegen Abend hätte man sie zweistimmig friedliche Pastorallieder pfeifen hören, später hätten sie abwechselnd das Familienorchester dirigiert…., wenn Eva von Anfang an eine Chance zur Selbstentwicklung gegeben worden wäre, hätte es kein heimliches Herumlungern am Baum der Erkenntnis, keinen unerlaubten Umgang mit Schlangen und Äpfeln und natürlich – das wäre ziemlich traurig gewesen – auch keine militanten Suffragetten gegeben.“ (in: Female Pipings in Eden, 1933)[3]
2. Strandräuber oder Strandrecht?
Doch nun zur Oper, uraufgeführt am 11. November 1906 in Leipzig und bis heute ihr wichtigstes Bühnenwerk - aber, wie heißt sie denn nun? „The Wreckers“, so der Titel in englischer Sprache, oder auf deutsch: „Strandrecht“? Natürlich wird auch mit dem Titel schon ein Akzent gelegt. Liegt er eher darauf, das Geschehen von vornherein als moralisch fragwürdig oder verwerflich zu kennzeichnen, wie es der Titel „The Wreckers“ - auf deutsch: die Strandräuber, oder Saboteure, die Zerstörer, die Abbrucharbeiter, nahelegt. Oder nimmt man den deutschen Titel „Strandrecht“ - was nahelegt, es ginge um etwas, was doch eine gewisse Legitimität beanspruchen kann oder etwas ist, was als durchaus Rechtens gelten könnte.
Deshalb zunächst: Was war oder ist denn überhaupt das „Strandrecht“? Nach dem schon aus römischer Zeit überlieferten Strandrecht war es Küstenbewohnern erlaubt, den anliegenden Strand in jeder Hinsicht zu nutzen. Dies schloss auch die Aneignung von Strandgut ein. Strandgut fiel dem Finder nach dem Strandrecht aber nur dann zu, wenn es keine Überlebenden gab. Und genau dafür sorgten die Küstenbewohner mitunter auch selbst - so auch hier an den Küsten Cornwalls. In solchen Fällen ist aber aus Strandrecht Strandraub geworden. Die Küstenbewohner, oft handelte es sich um arme Fischer und Kleinbauern, sahen das Strandgut als zusätzliche Einnahme- und Versorgungsquelle an. So kam es vor, dass sie Schiffe absichtlich fehl leiteten, z. B. durch das Versetzen oder Löschen von Leuchtfeuern. Das gab es bis ins 19. Jahrhundert an fast allen europäischen Küsten vor, z.B. vor Rügen und Amrum und, so hatte es Ethel Smyth bei einem Besuch an der dortigen Küste erfahren, auch an einem schwer zugänglichen und abgelegenen Teil der Küste Cornwalls. Heute gilt bei uns für Strandgut übrigens ohne Einschränkung das Fundrecht. Strandgut kann sich also erst dann rechtmäßig angeeignet werden, wenn der bisherige Eigentümer in der Absicht, auf das Eigentum zu verzichten, den Besitz der Sache aufgegeben hat.
Der deutsche Operntitel „Strandrecht“ macht also alles, was dann auf der Bühne geschieht, von vornherein schillernd. Da geschieht etwas, was nach damaligem Recht einerseits durchaus legitim war - Küstenbewohner eignen sich das Gut gekenterter Schiffen ohne Überlebende an - und was andererseits und zugleich völlig illegitim und moralisch verwerflich war, - indem man deutlich dazu beitrug, dass Schiffe überhaupt kenterten und dann auch noch die Überlebenden tötete. Auf scheinbar „legitimen“ Weg gelangte man so in den Besitz des Strandgutes, weil es so ja keine Überlebenden gegeben hatte.
Es gab, so auch in der Oper, also gewissermaßen eine Vorderbühne, auf der alles mit rechten Dingen zugeht: ein Schiff kentert, es gibt keine Überlebenden und das Strandgut gehört damit den Küstenbewohnern. Und es gibt von außen unsichtbare Hinterbühne, die nur den Küstenbewohnern bekannt und auf der Dinge geschehen, die mit ungeheurer Schuld einhergehen: mutwillig und mit Vorsatz werden Schiffe zum Kentern gebracht und ebenso mutwillig und mit Vorsatz die Überlebenden getötet. Es ist Pasko, der genau diese Spannung zwischen Vorder- und Hinterbühne nutzt, um das eigene Handeln zu legitimieren. Als Thurza ihn des Menschenmordes anklagt, erwidert er kühl: „Alles, was das Meer uns geboten, die Wellen uns bringen, froh nehmen wir’s aus Gottes Hand. Wir sind die Erben hier der Toten! So lautet hier das Recht vom Strand!“
3. Den Sinn für das Richtige behalten
Recht und Unrecht geraten durcheinander. Wenn man nur lange genug die gute und rechtsförmige Ordnung sabotiert und Recht nennt, was Unrecht ist, indem man einen nicht unbeträchtlichen Teil der Wahrheit verschweigt, geht das Recht am Ende ganz verloren. Und mit den Menschen geschieht, was in der Oper den Schiffen widerfährt - ohne Leuchtfeuer und Leuchttürme zur Orientierung geht alles in nicht mehr erkennbaren Untiefen verloren, wird mitgerissen in strudelnde Abgründe, wie sie das Meer in der Oper symbolisiert, und aus denen es kein Entkommen gibt. Wenn die Grenzen zwischen Recht und Unrecht verwischt oder unklar werden, wenn beide letztlich vertauscht werden, wie kann man darin bestehen? Ich denke an das berühmte Zitat von Theodor Adorno aus seinen minima moralia: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ Aber kann man im falschen dennoch das richtige tun? Und Wie?
Sie sehen, ich verstehe das Thema der Oper in erster Linie nicht nach dem Motto „wohin es führen kann mit der Religion“. Sondern so: Anhand einer religiösen Gemeinschaft wird uns hier exemplarisch vor Augen geführt, wie Recht zu Unrecht werden kann und wie das mit anderen Motiven, hier: religiösen, scheinbar begründet wird. Genau das aber entlarvt Thurza, indem sie Pasko vorhält: „Ja! Ihr legt die Worte euch schön zurecht: Sagt, Ihr wärt von Gott auserseh’n. Diebstahl, Raub nennt Ihr Lehnteil nehmen, heißt Menschenmord Gottes Gebot! Gott woll‘ euch mit Menschenblut nähren, ihr mordet, betet, wie’s Euch passt; singet und predigt Ihm zu Ehren, Eu’r Heiligtum ist mir verhasst!“
Thurza entlarvt, dass es eben nicht die Religion oder der Glaube sind, die den Strandraub rechtfertigen, sondern dass Religion und Glaube benutzt werden, um die Verkehrung des Rechts in Unrecht unsichtbar zu machen, zu verschleiern. Thurza aber lässt sich den Sinn für das Richtige, den Sinn für das richtige Verständnis des Glaubens nicht nehmen.
Wie gelingt ihr das? Ich sehe es so: zum einen, indem sie Abstand hält, sich von den gemeinsamen Ritualen nicht vereinnahmen lässt - sei es von den gemeinsamen Trinkgelagen, wie sie am Beginn der Oper stehen (darauf komme ich noch zurück), sei es vom Ritual des gemeinsamen Gottesdienstes, der hier ja weniger auf Besinnung der Einzelnen vor Gott zielt, sondern der fast rauschhaften immer wieder neuen Herstellung eines Gruppenganzen dienen soll. Denken wir nur an den enthusiastischen vielstimmigen und berauschten Chor nach dem Gottesdienst, der geeint den Eindruck teil: „Ach! Wie war die Predigt schön! Ja! Wunderschön! Ich glaubt’ den Teufel zu seh’n! Ich hab’ gebebt wie ein Lamm! Augen rot wie Höllenflammen! Und bei jedem Wort wittert man Teufel und Höll’! Satans’ Hand fasst mich an! Ach! Jeder Nerv in mir zittert, Satans’ Hand fasst mich an, Satans’ Hand, sie fasste mich an! Ich zittre! Ich zittre! Ich bebe!“ usw. usw. Wo so geradezu schwärmerische, rauschhafte Einheit steht, in der für Differenzierung kein Platz mehr ist, wo alle eines Sinnes und einer Stimmung sind, da gilt es wohl Vernunft und Abstand zu wahren, bei Sinnen und bei verstand zu bleiben.
Thurza jedenfalls hält es so, sie bleibt dem Gruppenritual fern. Auch hier sehe ich diesen Gottesdienst als ein Exempel für das, was geschieht, wenn aus „den vielen“, die doch eigentlich sehr unterschiedliche Menschen sind, eine homogene Gruppe wird, die alle, was nicht gruppenkonform mitmachen oder die man als nicht gruppenkonform ansehen will, ausschließt - wie z.B. in der „Volksgemeinschaft“ der nationalsozialistischen Ideologie. Thurza hält zu diesen Gruppeninszenierungen Abstand, sie lässt sich Mitgefühl, Nächstenliebe, Barmherzigkeit und Mitmenschlichkeit nicht nehmen. Sie lässt sich auch ihr Verständnis des christlichen Glaubens nicht verwirren und durcheinander bringen. Sondern sie fasst prägnant zusammen, was aus Sicht des christlichen Glaubens zur tödlichen Praxis der Dorfbewohner zu sagen ist und sagt/singt es frei heraus: „Wer euch Strander verrät, folgt nur christlicher Lehre.“ Evangelische Freiheit eines Christenmenschen?
Was das praktisch bedeutet, macht sie fragend so deutlich: „Ist unter euch ein einz’ger Mann, dess‘ Herz von Mordlust rein,…der die Milde noch kennt, ...nicht in Rohheit verkommen, ...ein Mann, der nicht ein Sklav‘, der kühn eigne Wege gewählt, ....der es gewagt im Sturm des Schiffes Freund zu sein, ......die Hand den Armen reicht, die sonst im Meer verloren?“
Barmherzig, mitfühlend, frei davon, sich von Hass und Hetze beeinflussen zu lassen, denen in Not zugewandt - so geht praktisches Christentum, so geht gelebter christlicher Glaube (nicht nur) nach Thurza und genau daran erinnert sie die Küstenbewohner. Recht so, nicht wahr, da sind wir doch gleich auf ihrer Seite und wenden uns voll Unverständnis ab von jenen anderen, den schwarz gekleideten, die nur den eigenen Vorteil suchen und unbarmherzig im Meer untergehen lassen, was ihnen im Weg ist.
Aber stopp, nur nicht so schnell, das will ich denn heute und hier auch sagen, haltet ein, hört noch einmal auf Thurzas Worte „Ist unter euch ein einziger Mann, der die Hand den Armen reicht, die sonst im Meer verloren.“ Bohrt sich die Frage nur denen ins Herz, die vor vielen Jahren an stürmischen Küsten Unrecht taten? Oder erreicht sie auch uns: „Ist unter euch ein einziger Mann, der die Hand den Armen reicht, die sonst im Meer verloren?“ Im Meer verloren, im kalten Wasser des Meeres, das den europäischen vom afrikanischen Kontinent trennt, im Mittelmeer, dem mittlerweile tausendfachen Grab: „Ist unter euch ein einziger Mann, der die Hand den Armen reicht, die sonst im Meer verloren?“
In aller Dramatik dieser Oper, in der immer etwas geschieht, in der immerfort Drama ist und Leidenschaft, Passion und Aufruhr, an Land und zu Wasser und auch am Himmel und auf Erden, in aller Dramatik dieser Oper hat sich mir diese Frage bei der Premiere geradezu leise und tief ins Herz gesungen und die ferne Zeit des Strandrechts war auf einmal ganz Gegenwart: „Ist unter euch ein einziger Mann/ eine einzige Frau, die die Hand den Armen reichen, die sonst im Meer verloren?“
4. Thurza: Fremde, Außenseiterin, Hexe oder: barmherzige Mutter?
Aber machen wir uns nichts vor, wer solche Fragen stellt oder auch nur zulässt, dass sie ihn oder sie berühren, wird in einer Gemeinschaft, die sich nicht besinnen und befragen lassen will, schnell zum Außenseiter, zur Außenseiterin. Zunächst beobachtet, bald verspottet, dann verhasst und schließlich verfolgt. So ergeht es auch Thurza. Ohnehin ist sie schon als sich selbst aus der Gemeinschaft ausschließende „Fremde“ markiert, die kritisch beäugt wird. Nach ihren kritischen Worten, die alles in Frage stellen, was angeblich Recht ist in ihrem Dorf, kann sich nun auch entladen, was ihr gegenüber schon länger mitschwingt: Neid, Eifersucht, blanker Hass. Avis, ihre eifersüchtige Gegenspielerin, singt es so: „Diese Fremde, sie lehrt Pasko, Gott noch verneinen. Ihr wisst, wie sie uns schmäht, uns verachtet und hasst. Stets, wenn wir uns freu’n, muss sie weinen. Lacht dann, wenn wir trauern, weil’s ihr passt. Jüngst haben wir’s erlebt, wie sie mit Hohn verschmähte, mit uns nieder zu Knien, zusammen im Gebete! Zum Gottesdienst geht sie nicht gern, was blieb sie dem Lande nicht fern? Die böse Hexe, diese Falsche, diese Schlange. Mit Künsten der Hölle vertraut, geheime Getränke sie braut. Getränke sie braut und sie knetet die Herzen, und hält sie im Zwange. Sie trübet das Gemüt, wie die Nebel das Land.“ Von der Fremden zur Außenseiterin und dann zur vermeintlichen Feindin ist es nicht weit, zur bösen Zauberin und Hexe, mit üblen Mächten im Bunde. Verschwörungstheorie pur ist das - auf der Bühne in Cornwall, im Lebensalltag überall und immer wieder und leider viel zu oft möglich, wo Menschen in Gruppen leben und Verstand und Vernunft, klares Denken und Faktenwissen in den Hintergrund gedrängt und statt dessen„gefühlte“ oder „alternative“ Wahrheiten Geltung haben.
An dieser Stelle ein paar Worte zu Thurza. Zunächst hat mich ihr Name stutzig gemacht - so ganz geläufig schien er mir nicht. Vielleicht steht auch der Name dafür, dass Thurza eine Fremde ist, jedenfalls nicht aus der engen Gemeinschaft der Küstenbewohner stammt. Aber woher kommt der Name? Nun, Thurza ist wohl eine Nebenform von Thirza, einem hebräischen Mädchennamen. Was er ganz genau bedeutet, ist nicht geklärt; zwei Möglichkeiten seiner Ableitung gibt es: zum einen „Gott hat Wohlgefallen“, zum anderen „richtig“, „in Ordnung sein“, und manchmal wird Tirza auch mit Schönheit, Anmut, Lieblichkeit verbunden. Alle drei Bedeutungen passen ja wunderbar auf Thurza: sie ist schön, sie weiß, tut und steht dafür ein, das richtige zu tun und dass Gott daran Wohlgefallen hat, steht für mich jedenfalls nicht in Frage. Aber zu Thurza/Thirza gibt es noch mehr zu erzählen: in der Bibel, in den Büchern des Ersten Testaments, wird Tirza mehrfach erwähnt, und zwar als jüngste Tochter Zelofads. Dieser Zelofad nun hatte keine Söhne, sondern ausschließlich Töchter: Machla, Noa, Hogla, Milka und Tirza. Als Zelofad stirbt, gibt es ein Problem: nach damaligem Recht konnten nur Söhne erben. Die fünf Töchter fassen sich nun ein Herz und gehen zu Mose, den Priestern und den ganzen Volk. Sie sagen: „Warum soll denn unseres Vaters Name in seinem Geschlecht untergehen, weil er keinen Sohn hat? Gebt uns auch ein Erbteil unter den Brüdern unseres Vaters. Mose brachte ihre Sache vor Gott. Und Gott sprach zu ihm: Die Töchter Zelofads haben recht geredet. Du sollst ihnen ein Erbteil unter den Brüdern ihres Vaters geben und sollst ihres Vaters Erbe ihnen zuwenden. Und sage den Israeliten: Wenn jemand stirbt und keinen Sohn hat, so sollt ihr sein Erbe seiner Tochter zuwenden.“[4]
Thirza gehört also in die Reihe der Frauen, die sich durch die Jahrhunderte für Rechte von Frauen einsetzen - und erfolgreich sind. Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass Ethel Smyth oder Henry Brewster, der das Libretto für die Oper geschrieben hat, nicht um diesen Zusammenhang wussten. Thurza ist also diejenige, die schön und mutig für die richtige Sache eintritt und das, so legt es ihr Name jedenfalls ebenfalls nahe, findet Wohlgefallen bei Gott. Wenn man jetzt noch berücksichtigt, dass in der Bibel Recht immer im engen Zusammenhang steht mit Gerechtigkeit, mit Barmherzigkeit für die Schwachen und Benachteiligten, dann hat sich mir jedenfalls auch erschlossen, warum Tirza in der Schweriner Inszenierung ein rotes Kleid und einen blauen Mantel trägt: in der christlichen Malerei war das über viele Jahrhunderte die Kleidung der Maria, der Mutter Jesu, der Gottesmutter. Und Maria ist in der katholischen Glaubenstradition die, die bei Gott für die Menschen um Gnade bittet - als Fürsprecherin der Menschen, die in Not und Leid sind: „Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes.“ Genau diese Funktion erfüllt auch Thurza, wenn sie bittet, „die Hand den Armen zu reichen, die sonst im Meer verloren.“
Noch ein kleiner Fun-Fact zu Thurza/ Thirza: Thirza Cove war eine Londoner Hausangestellte, die von der Sufragette Emmeline Pankhurst inspiriert worden war. Im Jahr 1908 schloss sie sich einer Demonstration von 5.000 Menschen auf dem Parliament Square an, die die Gleichberechtigung der Frauen forderten. Achtundzwanzig Frauen, darunter auch Thirza Cove, wurden während einer Sitzdemonstration verhaftet. Tirza Cove kam dafür für einen Monat ins berüchtigte Holloway-Gefängnis. Aber das war dann schon zwei Jahre nach der Uraufführung von „Strandrecht“.
5. Mark und die Stimme des Gewissens - ein guter Mensch
Thurza, die für Recht und Barmherzigkeit, für Mitmenschlichkeit und Nächstenliebe streitet und aktiv handelt, Thurza, die sich dagegen stemmt, dass der christliche Glaube für andere Zwecke missbraucht wird, ist mit all dem nicht allein. Ihre Liebe zu Mark gründet entschieden darin, dass er eben jener ist, „dess‘ Herz von Mordlust rein,…der die Milde noch kennt, ...nicht in Rohheit verkommen, ...ein Mann, der nicht ein Sklav‘, der kühn eigne Wege gewählt, ....der es gewagt im Sturm des Schiffes Freund zu sein, ......die Hand den Armen reicht, die sonst im Meer verloren.“
Was aber motiviert Mark, die Schiffe vor der stürmischen Küste Cornwall zu warnen? Ich habe es so gesehen: was bei Thurza die unbedingte Bindung an den Glauben ist, die sie zu ihrem konsequenten Handeln veranlasst, beschreibt Mark etwas anders, und zwar so: „Du fragst warum? Weiß man denn je warum? Kommt der Eine davon und der der Andre kommt um! Man nimmt Bittres und Süßes mit in Kauf im Leben. Eine mahnende Stimme will leis‘ sich erheben. Ja! Nennt mir den Mann, dem der Weg wär‘ bekannt! Schweigend mahnt das Geschick und erfasst uns’re Hand und man scheidet und geht und geht und man scheidet zu wandeln auf blühenden Auen oder auf dunklem Pfad dem Verhängnis entgegen.“ Was auf den ersten Blick wie ausgeliefert an ein unvorhersehbares Schicksal klingt - man weiß nicht, was einem oder einer im Leben begegnet - Bittres oder Süßes - und wie man dann handeln wird - ob man wandelt auf blühenden Auen oder auf dunklem Pfad dem Verhängnis entgegen gehet -, findet doch eine orientierende Größe: „Eine mahnende Stimme will leis‘ sich erheben.“ Diese mahnende Stimme, die sozusagen dazwischenredet, ist - das Gewissen.
Der Theologe Philipp Stoellger hat das Gewissen so beschrieben, als „fremde Stimme im eigenen Namen“[5], die einem dazwischenredet. Das Gewissen ist die Fähigkeit eines Menschen, das eigene Wollen, die eigenen Absichten anhand von Werten zu beurteilen. Wer sich vor dem eigenen Gewissen verantwortet, beurteilt das eigene Handeln, führt also eine Selbst-Klärung herbei. Und er oder sie trifft nach dieser Selbstklärung aus der Bindung an bestimmte Werte seine oder ihre Entscheidungen. Welchen Werten Mark folgt und vor welchem Horizont sich also seine Selbstklärung vollzieht, wird nicht ganz klar; da er aber von einem neuen Leben und einer Art Auferstehungshoffnung ausgeht, scheint auch bei ihm der christliche Glaube orientierend zu sein: „Wir seh’n uns wieder eines Tags, nach kurzer Frist, tief im Grab oder dort im Meere.“
So könnte es für ihn vor allem das 5. Gebot sein: „Du sollst nicht töten“, das hier die entscheidende Norm setzt. Martin Luther hat dieses Gebot im Kleinen Katechismus übrigens so erläutert: „Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir unseren Nächsten an seinem Leibe keinen Schaden noch Leid antun, sondern ihm helfen und fördern in allen Leibesnöten“ (Kleiner Katechismus). und im Großen Katechismus fügt er hinzu, „dass man nicht töten soll, weder mit Hand, Herzen, Mund, Zeichen, Gebärden noch Hilfe und Rat“ - wobei letzteres bedeutet: wer Hilfe verweigert, wo es möglich wäre und wenn dann der Tod eintritt, hat auch gegen dieses Gebot verstoßen.
Mark wird er als ein guter Mensch gezeichnet, der das Richtige tut und dafür sogar den eigenen Tod in Kauf nimmt. „Tötet mich wie ‘nen Schurken. Aber wisst: Ich trage froh die Last meiner Schande. Setzte der höheren Freud’ mein Leben gern zum Pfand. Mein Abschiedswort: Ich tat’s und ich bereu‘ es nicht!“ Mark vertraut seinem Gewissen - genau das macht ihn frei und geradezu froh, weil er mit sich selbst und seinen Werten im Reinen ist, vielleicht ist er sogar glücklich. Jedenfalls dann, wenn man Glück so versteht wie die britische Philosophin Philippa Foot: „… als die Freude am Guten, d.h. als die Freude, die man erlebt, wenn man die richtigen Ziele erreicht bzw. verfolgt.“[6] Mit Philippa Foot können wir Mark als guten Menschen ansehen: „Ein guter Mensch muss nämlich nicht nur einsehen, dass sein Wohl mit der Qualität des Wünschens und Handels verbunden ist, sondern er muss es auch fühlen: Das Gute muss ihn froh, stolz und selbstbewusst machen.“[7] Oder einfacher mit Martin Luther: „Wo gut Gewissen ist, da ist auch großer Mut und keck Herz.“[8]
6. Opfer und Hingabe
Großer Mut und keckes Herz - das haben Thurza und Mark gemeinsam. Ihre Liebe zueinander bestärkt sie, gemeinsam das Richtige zu tun, auch gegen alle Widerstände und Drohungen, sehenden Auges gewiß, aber beileibe nicht blind vor den Konsequenzen und sicher nicht ohne Angst. Nur eben: gewiß und sicher, weil beide gebunden und verwurzelt sind. Gebunden an und verwurzelt in etwas, was außerhalb ihrer selbst und der engen Gemeinschaft der Küstenbewohner steht - gebunden an den Gott der Liebe und Barmherzigkeit, gebunden an das eigene Gewissen, das sich gebildet hat in der Beziehung zu Gottes Geboten und/oder humanitären Werten.
Und damit kommt Unruhe in die geschlossene, abgeschlossene Welt der Küstenbewohner in Cornwall. Weil zwei unter ihnen, Thurza und Mark, an andere Werte gebunden sind als an das als Recht verbrämte unrechte Tun der anderen, wird die Homogenität der Gemeinschaft in Frage gestellt. Oder, und so sehe ich es: die ohnehin nicht gegebene Homogenität kommt nun in dramatischer Weise ans Licht. Denn die Gemeinschaft ist ja gar nicht so einig, wie sie scheinen will. Schon zu Beginn, gleich in der ersten Szene wird deutlich: die Dorfbewohner halten sich gar nicht das, was an anderer Stelle als unumstößlich erscheinen soll. Weder ihr Glaube noch ihr Anführer Pasko sind unangefochten: „Ihr wagt es zu trinken am Tag des Herrn? Wenn Pasko euch sieht, schwer werdet ihr’s büßen … Lasst euch von ihm die Laune nicht verderben. Wir sind doch keine Kinder! Uns erschreckt er nicht. Wenn er kommt, so lasst ihn toben.“
Die Küstenbewohner leben gar nicht so fromm, wie Pasko es fordert. Und sie wissen darum. Hier ist nichts so, wie es auf den ersten Blick scheint: der Glaube ist Oberfläche, um nicht zu sagen: pure Staffage. Die sittsamen Verhältnisse sind so sittsam dann doch nicht. Und was Recht genannt wird, ist bitteres Unrecht. Das alles schafft Konflikte. Und Konflikte, wenn sie nicht ausgetragen und ausgeglichen werden, wenn sie nicht zum Ausgleich von Interessen und so zu Veränderung führen, können eine Gemeinschaft zerstören. Weil sie unweigerlich erst zu Konfrontation und Streit führen und - wenn keine Lösung gefunden wird - in Hass und Gewalt enden.
Moderne Gesellschaften haben zur Abwehr solcher Eskalation Gesetze, Gerichtsverfahren, und das Gewaltmonopol des Staates; will sagen: der Rechtsstatt kann nötigenfalls auch mit Gewalt durchsetzen, dass Konflikte nicht eskalieren, und er schreitet ein, wenn Auseinandersetzungen zu Ausschreitungen werden.
Wie aber wurden solche Situationen in Gemeinschaften bewältigt, die diese regulativen Elemente noch nicht hatten? Oder was geschieht in einer Gemeinschaft, die für ein solches Instrumentarium zu klein ist und gleichzeitig fern und abgeschlossen von staatlicher Einflussnahme existiert? Ethel Smyth führt uns das in ihrer Oper glasklar und erschütternd vor Augen: Wenn die Homogenität, die Geschlossenheit der Gemeinschaft gefährdet ist, sieht sich die Gruppe in ihrer Existenz bedroht. Sie versucht dann - um im Wortsinn jeden Preis -, diese Gemeinschaft zu erhalten oder wiederherzustellen.Damit das gelingt, werden Schuldige gesucht und gefunden, die für die Situation verantwortlich gemacht werden. Die als schuldig Ausgemachten werden aus der Gemeinschaft ausgeschlossen oder vernichtet, getötet - und alles kann wieder so sein, wie es ohne sie war. Bis zum nächsten Mal…. Auch in unserer Oper ist das so: Thurza und Mark sind nicht die ersten, die von der Gemeinschaft als schuldige Verräter verurteilt werden. So singt es der Fischer Laurent: „Jetzt sind es fünfzig Jahre her, dass einer Verrat an uns beging. Da schloss man in diese Höhle ihn ein. Das Meer sucht ihn und fand ihn. Nun wisst ihr den Grund, warum man euch herbeirief, wo das Urteil wir fällen.“
Um die Geschlossenheit und Homogenität der Gemeinschaft immer wieder neu herzustellen, wird immer wieder tödliche Gewalt ausgeübt. Menschen werden zu Tode gebracht, damit die Gemeinschaft sich nicht ändern muss. Menschenleben werden geopfert, um Konflikte und Unruhe zur Ruhe zu bringen. Dass das keine Lösung ist und keine Lösung sein kann, zeigt schon die Regelmäßigkeit, in der diese Form tödlicher Gewalt ausgeübt wird - scheinbar legitimiert durch ein von der Gruppe gefälltes Urteil: schuldig. „Die Menschen“, so schrieb es einmal der französische Kulturanthropologe und Religionsphilosoph René Girard in einem pessimistischen Satz, „die Menschen sind ja nur dann zur Versöhnung fähig, wenn diese auf Kosten eines Dritten geht.“[9] Als ich in der Vorbereitung auf den heutigen Morgen auf diesen Satz gestoßen bin, mochte ich gar nicht weiter denken, was das heißen könnte im Blick auf gegenwärtige geopolitische Entwicklungen.
René Girard hatte sich mit der Frage beschäftigt, wie Gemeinschaften, insbesondere archaische Gemeinschaften, überleben konnten. Seine Antwort: nur dann, wenn sie in der Lage waren, die Ausbreitung von Gewalt innerhalb der Gruppe zu verhindern. Und das, so René Girard, war eine Funktion von Religion, und in ihr insbesondere das Ritual des versöhnenden Opfers. „Das Religiöse sagt den Menschen tatsächlich, was sie tun müssen und was sie lassen sollen, um die Rückkehr der zerstörerischen Gewalt zu verhüten. Vernachlässigen die Menschen die Riten und übertreten sie die Verbote, dann bewirken sie buchstäblich die Herabkunft der transzendenten Gewalt. Sie verwandelt sich dann wieder in jene dämonische Verführerin, in jenen ungeheuren und zugleich nichtigen Einsatz, in dessen Einflußbereich sich die Menschen physisch und geistig bis zur totalen Vernichtung zerstören, wenn nicht der Mechanismus des versöhnenden Opfers sie wieder errettet“[10].
Das Opfer, an dem Gewalt und Hass sich sozusagen stellvertretend austoben und dann, auch im Erschrecken über die eigene Grausamkeit, wieder zur Ruhe kommen, ist religionsgeschichtlich immer schuldig. Es wird, wie in der Versammlung in der dunklen Höhle am Strand von Cornwall, schuldig gesprochen. Und alle sind sich im Urteil einige. In den alten Mythen bleibt die Gemeinschaft schuldlos, das Opfer aber ist schuldig. Und weil es schuldig ist, muss es sterben. So wie Thurza und Mark: „Wollt ihr nun hier durch Volksbeschluss besiegeln dieser Beiden Los? Soll jetzt der Tod in dieser Höhle Verrat und Ehebruch strafen? - Wir stimmen bei. Das sei ihr Los!“
7. Das Ende der Illusionen und das Ende der Opfer
Die geradezu archaische Opferpraxis, wie sie von der Gemeinschaft der Strandräuber praktiziert wird, um Einmütigkeit und Homogenität wiederherzustellen, hat, und das muss heute und hier dann auch gesagt werden, im jüdisch-christlichen Glauben ihr Ende gefunden. Im Ersten Testament wird bereits deutlich, dass die Opfer - im Unterschied zu den anderen Mythologien der archaischen Welt - nicht mehr als schuldig, sondern als unschuldig angesehen werden. Dieser Unterschied kommt in der Aufforderung der Propheten, die Opferriten aufzugeben und Nächstenliebe statt Gewalt zu praktizieren, deutlich zum Ausdruck, so z.B beim Propheten Hosea als Ausspruch Gottes: „Denn ich habe Lust an der Liebe und nicht am Opfer, an der Erkenntnis Gottes und nicht am Brandopfer.“ (Hosea 6,6), ein Satz, der später von Jesus aufgegriffen wird: „Geht aber hin und lernt, was das heißt: »Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer.«“ (Mt 9,13)
Womit wir bei einem zentralen Punkt des Christentums angelangt sind: der Passionsgeschichte Jesu. Auf den ersten Blick vollzieht sich dort dasselbe wie in den archaischen Mythen. Ein Mensch wird für schuldig befunden, er wird getötet, damit inmitten von Unruhen und Aufruhr wieder Ruhe einkehrt. Aber etwas ist grundlegend anders und grundlegend neu: Christus, der am Kreuz zu Tode gefoltert wird, ist von vornherein, von allem Anfang an, unschuldig, frei von Bosheit, Hass und Gewalt. Sondern statt dessen: reine Liebe.
Dass die reine Liebe ans Kreuz geschlagen und getötet wird, offenbart, wer die wirklich Schuldigen sind: die, von denen die Gewalt ausgeht. Die Passionsgeschichte ist sozusagen ein Spiel mit offenen Karten. Christus stirbt als unschuldiges Opfer und die Verhältnisse kehren sich um, oder besser: werden vom Kopf auf die Füße gestellt, machen deutlich, was in Wirklichkeit vor sich geht: das Kollektiv, das den Unschuldigen tötet, ist in Wahrheit schuldig. Und das Kollektiv, das sind hier: alle Menschen. Aber Christus setzt die menschlich- allzu menschlichen Verhältnisse nicht fort. Er setzt die ihm zugefügte Gewalt nicht fort. Er verzichtet auf Gegengewalt, er stachelt seine Anhänger nicht zur Gegengewalt auf, er durchbricht den Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt. Christus gibt sich selbst und sein Leben, damit Frieden wird. Er opfert nicht andere. Er opfert sich selbst. Führt in seinem Leidensweg die menschliche und todbringenden Mechanismen vor Augen: Ausgrenzung, Lieblosigkeit, Gleichgültigkeit, Machtinteressen, Geltungswünsche, Gewalt, Hass. Führt vor Augen, wie Menschen sein können. Wie sie einander zu Opfern machen. Einander den Tod bringen. Führt das an seinem eigenen Leib vor Augen, damit Schluß damit ist. Ein für allemal.
Zum Verständnis des Kreuzes als Opfertod, einer der Lesarten des Todes Jesu am Kreuz, gehört nämlich auch: Die Selbsthingabe Christi am Kreuz ist ein für allemal geschehen. Von da an heißt es: Keine Opfer mehr. Niemals. Niemals mehr sollen Menschen andere Menschen opfern, damit sie selbst das Leben haben. Christus nachfolgen, heißt dann auch: Menschen beenden das Opfern, auch das sich-selbst opfern. Ein für allemal. Nicht Nachahmung, imitatio, sondern Nachfolge, successio. Nachfolge in leidenschaftlicher Liebe zum Leben, zum anderen, nicht Imitatio des Opferns, bei dem immer jemand auf der Strecke bleibt. Und vielleicht erinnern wir uns an den kurzen Gesang des Chores auf der Opernbühne zu Beginn des Gottesdienstes: „Des Heilands Tod erlöst die Welt.“
8. Was bleibt…
Weil der Tod von Menschen keine Erlösung bringt, ist es auch konsequent, dass Thurza und Marc auf der Schweriner Bühne am Ende nicht sterben. Jack, Kurzform von John, zu deutsch: Johannes, löst die Fesseln der beiden, die in der Höhle dem Tod durch Ertrinken in den Fluten des immer höher hineinströmenden Meeres ausgesetzt sind. Jack - Johannes, in biblischer Überlieferung der Jünger, den Jesus lieb hatte. „Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus“, heißt es im 1. Johannesbrief. Und so singen Thurza und Marc am Ende gemeinsam: „Unser ist der Sieg, ob des Lebens Freuden; Uns’re Seele schwebt auf zum Himmelszelt, wenn des Meeres Flut uns entführt der Welt. Und es ward zur Lust unser letztes Leiden, und es ward zur Lust unser letztes Leiden, des Meeres Flut, uns entführt der Welt das Meer, das Meer entführt uns selig der Welt, entführt uns der Welt. Das Meer!“
A propos: das Meer. Was ich mich gefragt habe: wo sind in dieser Oper eigentlich die Mütter, das Mütterliche, die Mütterlichkeit? Wir sehen Männer und Frauen, Väter und Töchter, aber keine Frau tritt explizit als Mutter in Erscheinung. Was mag das bedeuten? Ich weiß es nicht - aber: das Libretto der Oper hat Henry Brewster im Original auf französisch geschrieben. Und die letzten Worte „das Meer“ - la mer - sind vom Klang her dieselben wie la mère - die Mutter. Ob das etwas und was das bedeuten mag, überlasse ich Ihnen. Denn was Ethel Smyth sich für Frauen wünschte, will ich heute als Aufgabe für uns alle an den Schluss stellen: „Ich möchte,“ schreibt Ethel Smyth in ihren autobiografischen Aufzeichnungen, „ich möchte, dass Frauen sich großen und schwierigen Aufgaben zuwenden. Sie sollen nicht dauernd an der Küste herumlungern, aus Angst davor, in See zu stechen.“
Danke deshalb an alle, die diese wunderbare Inszenierung auf die Schweriner Bühne gebracht haben und weiter bringen, und die uns dazu animieren - beseelen - , nicht dauernd an der Küste herumzulungern, sondern uns großen und schwierigen Aufgaben zuzuwenden - gerade in dieser Zeit.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
[1] Virginia Woolf an Vita Sackville-West: „Ethels neuer Hund ist tot. Die Wahrheit ist, kein Hund kann die Anstrengung aushalten, mit Ethel zu leben.“ https://os-rundschau.de/rundschau-magazin/judith-kessler/ethel-smyth-wurde-heute-vor-166-jahren-geboren (letzter Zugriff 14.2.2025)
[2] Siehe: https://os-rundschau.de/rundschau-magazin/judith-kessler/ethel-smyth-wurde-heute-vor-166-jahren-geboren/ (letzter Zugriff 14.2.2025)
[3] „Ah me! if Act I. Scene I. of the human drama had only been more carefully thought out, what happy days might have been spent in Eden! No hunting poor Eve into the marsh ; no ramming cotton wool up the little reed she had fashioned for her own fingers! She and Adam would each have constructed a sound-proof hut in different corners of the garden (as far apart as possible), and towards evening they would have been heard piping peaceful pastorals in two parts, later on taking it in turns to conduct the family orchestra. Archæological research in Mesopotamia is having a slump just now; but it needs neither new Rosetta stone nor recently deciphered palimpsest to tell us, that if from the very first Eve had been granted a chance of self- development, there would have been no furtive hanging about the Tree of Knowledge, no illicit truck with serpents and apples, and of course-this would have been rather sad—no Militant Suffragettes., in: Ethel Smyth, Female pipings in Eden, 2. Aufl. 1934, 56. siehe: https://babel.hathitrust.org/cgi/pt?id=uc1.32106017264836&seq=70&q1=act+1 (letzter Zugriff 14.2.2025)
[4] 4. Mose 27,1ff; Vgl. auch Jos 17,3f.
[5] Vgl. Philipp Stoellger, Was dazwischenredet - das mehrstimmige Gewissen. Gewissen als fremde Stimme im eigenen Namen, in: Stephan Schaede/Thorsten Moos (Hrsg.), Das Gewissen, Tübingen 2015, 285-314.
[6] Philippa Foot, Die Natur des Guten, Frankfurt/M 2014, 129.
[7] Philippa Foot, Die Natur des Guten, Frankfurt/M 2014, 130.
[8] Martin Luther, Ob Kriegsleute in seligem Stand sein können, WA 19, 623.
[9] René Girard, Das Heilige und die Gewalt, Düsseldorf pp-Ausgabe 2006, 380.
[10] René Girard, Das Heilige und die Gewalt, Düsseldorf pp-Ausgabe 2006, 381.