Vom Korn zum Brot zur Welt – Predigt zum Landeserntedankfest 2010
03. Oktober 2010
Liebe Gemeinde!
Zu den wichtigsten Überlieferungen der Bibel gehört die Bergpredigt Jesu. In der Mitte der Bergpredigt findet sich das Gebet Jesu, das auch wir in diesem Gottesdienst wieder beten werden, das Vaterunser. In der Mitte des Vaterunsers, also an ganz zentraler Stelle steht die Bitte: „Unser tägliches Brot gib uns heute.“ Was auffällt – es heißt nicht: „Mein tägliches Brot gib mir heute.“ Nein, unser gemeinsames Brot sollen wir erbitten und dankbar aus Gottes Hand empfangen. Das ist alles andere als Zufall. Mit dieser Formulierung wird deutlich: Es genügt nicht, dass ich selbst satt zu essen habe. Gesegnet ist mein Leben, wenn auch mein Nachbar das hat, was er zum Leben braucht. Die Bitte um unser tägliches Brot macht uns zu einer Gemeinschaft von Menschen, die aufeinander achten sollen.
„Solange es noch so viel Liebe gibt, dass Menschen trotz eigener Not ein Brot weiterverschenken, statt es selber zu essen – solange habe ich keine Angst um uns“, sagt der Arzt in der Spielszene. Die Geschichte zeigt, wie viel Grund zur Dankbarkeit wir an diesem Tag haben:
• Seit Jahrzehnten leben wir in Frieden. Vor zwanzig Jahren gelang es, ohne Gewalt unser Vaterland staatlich zu vereinen.
• Eigentlich müsste in unserem Land niemand Hunger leiden.
• Trotz mancher Ertragseinbußen – die Arbeit in der Landwirtschaft hat auch in diesem Jahr wieder Früchte getragen. Die Mühe fleißiger Menschen und der Segen Gottes haben eine Ernte ermöglicht, von der wir leben können.
• Und nicht nur für unseren Leib ist gesorgt – auch unsere Seele hat manches empfangen, was sie nährt – wunderbare Bilder des Blühens, des Wachsens und des Reifens. Wie schön war es wieder, durch sommerliche Landschaften zu fahren, reifende Kornfelder zu sehen, dazwischen die leuchtenden Farben von Klatschmohn und Kornblume. Wir leben auch von dieser Schönheit.
Für mich ist das die schönste Zeit des Jahres, die Getreidefelder reifen zu sehen. Aber wie viel Arbeit ging dem voraus – die Vorbereitung des Bodens, die Aussaat bspw. Ein weiter Weg ist es vom Korn zum Brot. Viele Schritte sind nötig. Mancher dieser Schritte ist wie ein Bild für unser menschliches Leben. Zum Beispiel die Aussaat – im Johannesevangelium heißt es einmal: „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es abererstirbt, bringt es viel Frucht.“ (Joh 12, 24) Das gilt im buchstäblichen Sinne für das Korn, das auf unseren Feldern ausgesät wird. Wenn es sich vervielfachen soll, wenn es Frucht tragen soll, muss es sich verwandeln, sich hingeben, um etwas Neues, Größeres werden zu lassen. Das Gleiche gilt für uns Menschen: Wenn unser Leben Frucht tragen soll, dürfen wir uns nicht festhalten wollen. Unser Leben erfüllt sich in der Hingabe. Es ist dasselbe Geheimnis der Verwandlung: Wo wir für andere da sind, wo wir uns hingeben, verkümmern wir nicht, sondern stiften neues Leben. Aus einzelnen, sich verwandelnden Körnern wird lebensspendendes Brot. Aus vereinzelten Menschen, die nicht starr auf sich selbst bezogen sind, wird durch Hingabe eine Gemeinschaft, die füreinander einsteht.
Die Gegenbeispiele stehen uns deutlich vor Augen: In manchen Teilen der Erde hat unbarmherzige Dürre ganze Ernten ausfallen lassen. Russland, in diesem Jahr hart betroffen, hat die Ausfuhr von Getreide untersagt. Das kann geschehen. Aber wirklich schlimm ist, was Spekulanten aus dieser Lage machen: Künstlich treiben sie die Preise für landwirtschaftliche Produkte in schwindelnde Höhen. Für uns dürfte es zu verschmerzen sein, wenn das Stück Kuchen 10 Cent teurer wird, aber andernorts gehen Menschen an der unnötigen Teuerung zugrunde! Schon im Buch der Sprüche in der hebräischen Bibel heißt es: „Wer Korn zurückhält, dem fluchen die Leute; aber Segen kommt über den, der es verkauft.“ (Sprüche 11, 26) Welch eine Verkommenheit, aus dem Hunger anderer seinen Profit zu ziehen! Welch eine seelische Armut!
Welch ein Reichtum aber bei Menschen, die sich nicht auf sich selbst zurückziehen! Welch eine Fülle des Lebens! Ein Beispiel hat mich besonders bewegt: Im Jahre 2005 hatte der Palästinenser Ismael Khatib großen Schmerz zu überwinden. Sein zwölfjähriger Sohn Ahmed wurde von einem israelischen Soldaten erschossen, der sich bedroht gefühlt hatte durch die Maschinenpistole aus Plastik, mit der Ahmed hantiert hatte. Als die Ärzte den Tod von Ahmed feststellen müssen, fragen sie seinen Vater, ob sie Organe seines Sohnes verpflanzen können – an Kinder, die sonst sterben müssten. Kinder in Israel! Ismael Khatib stimmt zu, trotz seines großen Schmerzes, weil er weiß, dass Frieden nur werden kann, wenn Menschen aussteigen aus dem Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt. Dieser Vater ist nicht gefangen in Rachegelüsten, sondern gibt sein Kostbarstes hin. Und als er das Mädchen besucht, das durch das Herz von Ahmed leben kann, sagt er: „So lange wie Ahmeds Herz in diesem Mädchen schlägt, ist mein Sohn am Leben.“
Vom Korn zum Brot ist es ein weiter Weg. Das geerntete Getreide muss getrocknet werden, bevor es zu Mehl gemahlen werden kann. Woldegk als Stadt der Windmühlen hat in dieser Hinsicht eine große Tradition. Und dann das Backen: Heute kaufen wir unser Brot ja meistens fertig beim Bäcker. In meiner letzten Gemeinde sind wir mit unseren Konfirmanden daher kurz vor Erntedank aufs Dorf gefahren, um in einem alten Backofen selber Brot zu backen. Der Ofen wurde mit Holz angeheizt, dann der Teig geknetet. Danach musste er eine Weile gehen, bevor wir die Brote formen konnten. Als das Holz durchgebrannt war, wurde die Glut herausgeholt, der Ofen mit den Brotlaiben beschickt. Welch eine Freude war es, nach einiger Zeit diese Brote aus dem Ofen zu holen!
Die wurden dann am nächsten Tag in der Gemeinde verkauft – zugunsten der Kinderpatenschaft, die die Konfirmanden übernommen hatten. Aber mindestens so wichtig war der Geschmack dieses selbst gebackenen Brotes: Keine der über 20 Brotsorten, unter denen wir heute wählen müssen, konnte es mit diesem Brot aufnehmen, das durch unsere Hände gegangen war. Welch eine Freude, das eigene Brot zu essen, ohne Aufschnitt – und alle Aufmerksamkeit galt alleindem Brot. In der Überfülle unserer Überflussgesellschaft braucht es manchmal solche elementaren Erlebnisse, um den Reichtum wieder schätzen zu lernen, der im Einfachen liegt. Und es braucht den wachen Blick für die, denen es am Nötigsten fehlt.
Im September habe ich eine Woche lang Kirchgemeinden in Rostock besucht. Die Gemeinde Toitenwinkel unterhält eine Begegnungsstätte, in der Kinder eine warme Mahlzeit bekommen, Hausaufgaben machen, spielen, musizieren können. Zu den Kindern, die gerne kommen, gehört auch Kevin, ein Junge aus dem angrenzenden Plattenbaugebiet. Neulich sagte Kevin zu einer Mitarbeiterin:
„Bei euch ist das wirklich toll, ich freue mich schon beim Aufstehen, dass ich mittags bei euch etwas zu essen bekomme, denn morgens ist meistens nichts mehr im Kühlschrank. Mein Bruder isst nachts immer alles auf. Aber doof ist bei euch, dass ihr nicht abends auf habt.“ Die Mitarbeiterin fragte: „Warum?“ Kevin antwortete: „Ich darf immer erst um 20 Uhr nach Hause kommen. Meine Mutter sagt, ich nerv’ sie. Ja, da kann man nichts machen.“
Ein Kind nicht irgendwo, sondern mitten unter uns, das hungrig in den Tag geht; ein Kind, das von seiner offenbar überforderten Mutter nicht die Zuwendung bekommt, die es braucht. Unser tägliches Brot gib uns heute! Immer mehr Kirchgemeinden in M-V bieten warme Mittagstische an: nicht einfach heiße Suppe, sondern Nahrung für Leib und Seele, weil Aufmerksamkeit und Zuwendung dazugehören. Andere gehen noch einen Schritt weiter, bringen den Kindern das Kochen bei, damit sie sich selber helfen können. Ich bin froh, dass Menschen in unseren Kirchgemeinden nicht wegschauen, sondern ihr Herz sprechen lassen. Es muss ja auch nicht immer das große Projekt sein. Dem eigenen Kind ein zweites Schulbrot mitgeben für den Mitschüler, der immer mit knurrendem Magen in den Unterricht kommt, sich ein wenig Zeit zu nehmen für das sich selbst überlassene Mädchen in der Nachbarschaft und ihm Zuwendung schenken – das kann Leben verändern.
Oft liegen diese Probleme an Vätern und Müttern, die nicht mehr in der Lagesind, normale elterliche Verantwortung wahrzunehmen. Aber es ist nicht einfach allein ihre Schuld. Armut und Aussichtslosigkeit deformieren Menschen und untergraben ihre sozialen Fähigkeiten. Sie beginnen, an sich zu zweifeln, vernachlässigen sich selbst und andere. Deshalb können wir uns nicht abfinden mit der wachsenden Ungerechtigkeit in unserer Gesellschaft, wie sie sich auch in den neuen Hartz IV-Regelsätze widerspiegeln.
Heute, am zwanzigsten Jahrestag der deutschen Einheit haben wir viele Gründe zur Dankbarkeit: Dass es Gott sei Dank vorbei ist mit dem Los politischer Gefangener, mit den systematischen Versuchen der Staatssicherheit, Menschenzu zerstören, dass es vorbei ist mit der Einmauerung der eigenen Bevölkerung, einschließlich Selbstschussanlagen, mit dem Verwehren von Abitur und Studium aus ideologischen Gründen, mit der durch Halbwahrheit und Lüge verdorbenen Atmosphäre – dafür bin ich sehr, sehr dankbar. Aber es kann nicht sein, dass in dieser Gesellschaft offenbar die Lobbyisten entscheiden, wo am meisten gespart wird. Auch da, wo die wachsende Perspektivlosigkeit ganzer Schichten gesellschaftliche Teilhabe verhindert, wo Kinderarmut kaum wieder gutzumachende Bildungsnachteile mit sich bringt, auch und gerade da sind wir gefragt, für unsere Verfassung einzustehen, die besagt: Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit.“
Darum ist es wichtig, dass wir uns politisch engagieren. Gestalten wir diese Gesellschaft mit! Gehen wir in die demokratischen Parteien und sorgen mit dafür, dass Entscheidungen getroffen werden, die gerecht sind und den Menschen dienen! Die heute an leitender Stelle politische Verantwortung tragen sollen wissen: Wir werden uns nicht abfinden mit der zunehmenden Armut. Wir erklären uns nicht einverstanden mit Klimakatastrophe und CasinoKapitalismus. In der friedlichen Revolution haben wir es erlebt und halten daran fest: Die Verhältnisse müssen nicht so bleiben, wie sie sind.
Darum übernehmen wir Verantwortung – bei uns und auch für die fernen Nächsten, wie Sie hier mit dem Arusha-Verein, der Menschen in Tansania beisteht und in der großen Dürre des letzten Jahres Menschen vor dem Hungertode bewahrt hat.
Es ist ein weiter Weg vom Korn zum Brot und scheinbar auch ein weiter Weg zur Welt. Aber auf jeden Fall ist es ein lohnender, erfüllender Weg: Wo Menschen durch uns zu ihrem Brot kommen, da glückt unser Leben. Das Korn, das in die Erde fällt und erstirbt, bringt vielfältige Frucht.
Eine Geschichte der Bibel erzählt, wie die Freunde von Jesus ihn nach seiner Auferstehung eigentümlicherweise zunächst nicht erkennen. Aber dann teilt er ihnen das Brot, und sie erkennen, dass er Christus ist. Schenke Gott, dass andere Menschen Christen daran erkennen, dass sie bereitwillig und freudig Brot undandere Mittel zum Leben teilen. Wir können das tun in der Gelassenheit derer, die wissen: Wer zuerst nach Gottes Reich und seiner Gerechtigkeit trachtet und dafür lebt, dem wird alles Lebensnotwendige zufallen. AMEN.