Vortrag im Haus der Kirche in Hamburg Niendorf
16. Februar 2012
„Ich will dich tragen bis ins Alter“ Bilder vom Altern und ihre Veränderungen
Ich danke herzlich für die Einladung zu einem Ihrer beiden Fachvorträge! Das Thema Alter und Altwerden beschäftigt oder besorgt einen in den unterschiedlichen Lebensphasen unterschiedlich dicht. Und so könnten vermutlich alle hier in irgendeiner Form etwas zum Thema beitragen – so wie sie hier.
[Bild der runzeligen alten Frau – kann leider nicht dargestellt werden]
Sie hat etwas ziemlich Gewitztes und Herausforderndes, die alte Dame, finden Sie nicht? Als wollte sie sagen: So, so. Übers Alter wollt Ihr etwas erfahren. Voilà - schaut mich an!
Ihr Gesicht strahlt eine ganz besondere Mischung zwischen runzliger Milde und Entschlossenheit, Zuversicht und Skepsis aus. Sie hat sicher eine Menge hinter sich. Ihr kann man so schnell nichts erzählen, aber es wäre schön, sie erzählen zu hören. Ich würde mich gern mit ihr auf eine winterlich warme Ofenbank setzen und darüber reden, wie sie klirrend kalte Winter überstanden hat und wer ihre Sonne war. Ob es oft finster war in ihrem Herzen und was ihr in ihrem Leben Freude gemacht hat. Ich würde gern etwas darüber erfahren, welchen Traum sie gehegt, welches Kreuz sie zu tragen hatte und welche Hoffnung sie trug. Und ich stelle mir vor, wie ihr Gesicht immer wieder neu zu lesen aufgibt und wie sie mich herausfordert zu fragen. Mich, die ich ihre Tochter sein könnte, die sich verantwortlich fühlt. Oder die Enkelin, die gern Geschichten hört, wie es früher war. Oder die Seelsorgerin, die sie begleiten möchte. Denn „ich will dich tragen bis ins Alter“, heißt es von Gott beim Propheten Jesaja.
Ich will dich tragen – im Angesicht des Alters. Doch „das“ Alter hat viele Angesichte – und es gibt ebenso viele Ansichten, Bilder vom Alter und Altwerden in uns. Diese anzuschauen, möchte ich Sie mit meinem Vortrag einladen. Nicht Zahlen und Statistiken und messbare Daten stehen im Vordergrund; sie ermüden (jedenfalls mich) meistens und würden zudem eher 40 Stunden beanspruchen statt der geplanten 40 Minuten.
1. Was in den Bildern steckt: Phänomene und Ansichten vom Alter in unserer Gesellschaft
Ich möchte mit Ihnen hinschauen und deuten, was in den Bildern steckt, die wir in uns tragen. Im ersten Kapitel geht es um die Interpretation von Eindrücken, wie sie jede und jeder hier im Raum haben wird, und im zweiten Kapitel geht es um die Folgen, die wir in Kirche, Diakonie und Politik daraus ziehen sollten.
[Bild und Text Albert Schweitzer – kann leider nicht dargestellt werden]
Albert Schweitzer hat einmal gesagt: „Mit zwanzig Jahren hat jeder das Gesicht, das Gott ihm gegeben hat, mit vierzig das Gesicht, das ihm das Leben gegeben hat, und mit sechzig das Gesicht, das er verdient.“
Und ich schaue ihn selbst an und sage: Da hat er recht. Das Leben prägt uns. Das Leben, wie es uns widerfahren ist, aber auch wie wir es entschieden haben, hinterlässt Spuren. Das kann man sehen, und mehr noch: man sollte es auch sehen. Denn es ist ein Verdienst, wenn ein Gesicht von der Schönheit, den Tragödien, dem Charme, dem Schmerz, dem Begehren, der Angst und den Hoffnungen eines ganzen Lebens zu erzählen weiß.
Offenbar ist dieses zu sich Stehen im Alter – nach langen Jahrzehnten des Jungbleibenwollens – heutzutage wieder en vogue. Es wächst eine gesellschaftliche Akzeptanz des Alters, die kritisch auf abwertende Typologien reagiert, wie sie sich zum Beispiel in folgenden Assoziationen widerspiegeln: Alt und krank. Alt und gebrechlich. Alt und hinfällig. Alt und arm.
[Foto von Tina Turner– kann leider nicht dargestellt werden]
a) Die jungen Alten
Darf ich vorstellen? Rocklady Tina Turner, Jahrgang 1939. Das Beinwunder ohne Venencreme. Noch vor Kurzem hat sie erfolgreich eine Welttournee hinter sich gebracht.
Ja, es gibt sie schon länger, die jungen Alten, die nicht die Defizite des Altwerdens, sondern im Gegenteil fast mit einem gewissen Trotz dessen Potentiale in den Blick rücken. Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an! So zeigte die Kosmetikwerbung für Feuchtigkeitscreme auf einem riesigen Plakat am Hauptbahnhof eine stolze, faltenreiche Mittsechzigerin, ausstrahlungsstark, leistungsfähig und – schön! Das hätte es vor 10 Jahren nicht gegeben.
Dieser Trend kommt nicht von ungefähr, stecken doch dahinter wie so oft ökonomische Interessen. Der Markt hat die „jungen Alten“ entdeckt. Jene Zielgruppe also, die äußerst zahlungskräftig inzwischen fast ein Drittel der Bevölkerung in Deutschland ausmacht, und die ihre Berufstätigkeit zu einem Zeitpunkt aufgibt, an dem sie noch einmal richtig etwas anfangen will. Ganz anders als die 65-Jährigen vor 40 Jahren tut man etwas für sich, ist modisch gestylt, durch Reisen gebildet, durch Golfspiel (und anderen Sport) körperlich fit, und in jeder Hinsicht ein interessanter Wirtschaftsfaktor.
[Bild von den Oberalten – kann leider nicht dargestellt werden]
Doch nicht nur dies – sie sind auch die Zielgruppe mit einem hervorragenden bürgerschaftlichen Engagement. Ohne die jungen Alten keine ehrenamtliche Hospizbewegung, kein Mitternachtsbus, keine Kirchenvorstände und kein Oberaltengremium, ohne sie keine Lesehilfe für Migrantenkinder, keine Großelterndienste für Neugeborene, keine Hamburger Tafel, kein Sportverein, ohne sie kein Hospital zum Heiligen Geist. Ihre Erfahrung, ihr Kenntnisreichtum, ihre Lebensfreude und ja, auch ihre Sinnsuche sind elementar für das soziale Gesicht unseres Landes. Und das wissen Politik und Kirche zu schätzen, in Hamburg allzumal – manchmal mehr, manchmal zu wenig. Sie, wir wissen es und rechnen damit, weil wir ohne diese Menschen unsere Dienste gar nicht aufrecht erhalten könnten.
Altwerden hat also Potential.
Und die Aktivität der jungen Alten ist ein Potential.
Das ist die eine Seite der Medaille.
[Bild von alter Frau und altem Mann – kann leider nicht dargestellt werden]
b) Alt werden heißt Grenzen fühlen
Die andere Seite, gern verdrängt und dennoch allzu gegenwärtig, sind die Grenzen, die der alt werdende Körper und Geist dem Menschen aufgibt zu verkraften. Bekannt ist ja, dass ab dem 30. Lebensjahr der körperliche Abbau beginnt, und früher oder später fühlt man ihn auch. Die einen mit 60, die anderen mit 70, andere erst mit 85 Jahren. Meistens peu à peu, sukzessive. Potential und Grenze liegen immer dichter beieinander. Ich sehe etwa meine Mutter vor mir, die bei jedem Faschingsfest für die Senioren als Queen Mom auftritt, um die „alten Leute“ zu vergnügen. Dies wäre in ihrem 85. Lebensjahr fast gescheitert, weil sie wegen der schmerzenden Knie kaum die Treppe zur Bühne hochkam.
Wissenschaftlich wird das Altern als „eine Folge biologisch-genetischer Endlichkeit des Lebens“ beschrieben. Die Frequenz der Zellteilungen verringert sich kontinuierlich, bevor sie schließlich ganz aufhört. Heißt auf gut Deutsch: Die Brillengläser werden immer stärker, Hörgeräte nötig, auf dem Einkaufszettel steht Tena-Lady aus der Apotheke und Erinnerungslücken häufen sich. Dies alles macht ängstlich und unsicher und hemmt die Freude, sich zu bewegen, gemeinschaftlich etwas zu unternehmen und etwas Unvertrautes zu riskieren. Der Lebensradius wird kleiner, die Einsamkeit größer. Und irgendwann treibt einen die bange Frage um, wie lange man womöglich noch allein in den eigenen vier Wänden zu Recht kommt. Ob man nicht doch eine Patientenverfügung verfassen sollte? Ob die kleinen Ausfälle und das schlechter werdende Gedächtnis schon eine beginnende Demenz anzeigen? Keinesfalls, das ist heutzutage meiner Wahrnehmung nach die schwerste innere Not, möchte man irgendjemandem zu Last fallen, den Liebsten am wenigsten. Mir kommt dabei Walter Jens in den Sinn, ein Mann mit ehemals hervorragendem, dann zerrüttetem Geist, der nur noch getragen werden kann – von Pflegekräften, vor allem aber von einer in kluger Liebe verbundenen Frau. – Ab einer gewissen Lebenssituation (nicht Lebensalter!) kreisen die Gedanken viel eher um die Grenzen als um die Möglichkeiten des Lebens.
Die dagegen, die sich auf ihren Körper noch gut verlassen können, die wir laufen und springen und schnell sind und schnell sein müssen, wir können uns in die Verzagtheiten des Altwerdens oft nicht recht einfühlen.
[Bild zum Anzug – kann leider nicht dargestellt werden]
Es sei denn, wir machten es wie diese Konfirmandengruppe, die - eine Taucherbrille auf der Nase, Hörschutz auf den Ohren und mit einem Simulationsanzug bekleidet, auf einmal am eigenen Leibe erfährt, wie sich Altsein anfühlt. Da zerren Zusatzgewichte von 15 Kilo am Körper, alle Sinne sind eingeschränkt, die Gelenke muss man gegen dicke Klettbänder anbeugen. Will man Schuhe anziehen, gerät man ins Schwitzen. Auch Zeitung lesen gelingt nur, wenn die Buchstaben groß genug sind.
Es gäbe noch viel Erhellendes zu der Frage zu sagen, die selbst so alt ist wie Menschheit: ab wann nämlich der Mensch definitiv alt ist. Und nicht mehr jung-alt. Mit Mut zur Lücke möchte ich eines nennen, das meiner Beobachtung nach das Gefühl hervorruft, nun endgültig alt zu sein:
c) Alt…. und zu Fall gebracht
[Bild mit Rollator - kann leider nicht dargestellt werden]
Ich glaube, es ist das Fallen. In dem Moment, wo jemand – man weiß gar nicht, wie das kam – auf einmal auf dem Boden liegt und nicht mehr allein aufstehen kann, weil einem die Beweglichkeit fehlt und die Kraft, in dem Moment gehört man zu den „Gestürzten“. Wird aus einem älteren ein alter Mensch. Der Schock über das Versagen und die Unsteuerbarkeit des Körpers sitzt so tief wie die Sorge, dass man womöglich nie mehr ohne Hilfe leben kann. Der Oberschenkelhalsbruch, erfolgt „aus innerer Ursache“, der auf kurz oder lang in eine Pflegeeinrichtung führt, gehört zu den Schreckgespenstern des Alters. Und so ist subjektiv empfunden manchmal der Rollator nicht die Gehhilfe, die mehr Sicherheit und Balance geben soll; er ist das Symbol der Abhängigkeit, der Fremdbestimmung, die ab jetzt zunehmen statt abnehmen wird. Bis zum Ende der Tage. Eine andere Perspektive gibt es nicht; und deshalb will man ihn nicht, den Rollator und zögert seinen Gebrauch so lang hinaus, wie es nur irgend geht. Denn er betont letztlich: Man ist bestürzt und betagt. Die eigenen Füße tragen nicht mehr, man muss sich tragen lassen.
Ich will dich tragen bis ans Ende, spricht Gott. Ein Zuspruch, der uns Menschen aber nicht ohne Aufgabe lässt. Die nicht, die manchmal mit bitterem Stolz lernen müssen, Hilfe überhaupt anzunehmen. Aber auch die, uns nicht, die wir die Würde des alten Menschen so achten, dass wir sie tragen, wohin sie wollen. Zugleich ist wichtig zu hören: Gott trägt auch die, die tragen. Er trägt die, die sich in der Helferrolle befinden bei all den Momenten der Ungeduld, des Mitleidens und Ungenügens, bei all den eigenen körperlichen Grenzen, die eine Pflege zutage treten lässt.
II. Was die Bilder „uns stecken“: Umgang mit Alter in Politik, Diakonie und Kirche
Was nun folgt aus den Beobachtungen und Interpretationen, was „stecken“ uns die Bilder, dass wir es in unserem Handeln in Politik, Diakonie und Kirche umsetzen? Auch hier, mit Mut zur Lücke, möchte ich mich auf drei Schlaglichter beschränken: Generationensolidarität, Biographiearbeit, Seelsorge.
[Foto mit altem Mann und Neugeborenen auf einer Seite - kann leider nicht dargestellt werden]
Sie, wir sind uns doch in vielem so ähnlich, die Jungen und die Alten, warum sollten wir also nicht zusammenhalten, was zusammengehört? Und so bin ich bei der
a) Generationensolidarität
Vor fast 15 Jahren ging ein Aufschrei der Empörung durch die Welt, als Medienberichten zufolge in China eine Waschstraße für alte Menschen in die Produktion genommen werden sollte. Das Prinzip war ganz einfach: Wie Autos sollten alte Menschen auf einem Fließband einer Wasch- und Pflegeprozedur unterworfen werden, ohne dass dafür Personal erforderlich wäre. Man bewertete dies damals (bereits vor jeglichem Methusalemkomplott) als gefühlsrohe Eskalation des Generationenkonfliktes, der sich schlüssig aus der demographischen Entwicklung ergäbe.
Zwei Dinge finde ich dabei heute bemerkenswert, nämlich erstens, wie lange die demografische Entwicklung uns letztlich in seiner ganzen Dramatik schon bekannt ist. (und wie zögerlich allerorten darauf reagiert wurde). Es mögen sich Zahlen und Details verändert haben, der Trend war bereits Ende der 80er, Anfang der 90-er Jahre bekannt und virulent. Aktuelle Zahlen belegen, dass wir auf eine Gesellschaft zugehen, die zu einem großen Prozentsatz aus alten und sehr alten Menschen besteht: Die Zahl der rüstigen, aktiven Alten wird wachsen, sodass sie in ca. 20 Jahren (wenn ich pensioniert werden könnte) etwa die Hälfte der deutschen Bevölkerung ausmachen. Damit verbunden wird auch die Zahl der Menschen mit Demenz und Mehrfachbehinderungen, wie es so formal heißt, steigen. Zugleich werden die finanzielle Absicherung der alten Menschen und damit die notwendigen Pflegeleistungen immer weniger gesichert sein.
Damit komme ich zum Zweiten, was ich bemerkenswert finde: Ist die Idee einer Waschstraße - so inhuman sie klingt - auf kurz oder lang wirklich so unwahrscheinlich? Oder anders gefragt: Wer eigentlich soll uns, z.B. die geburtenstarken Jahrgänge pflegen, lässt sich doch jetzt schon ein Mangel an qualifiziertem Personal erkennen bzw. erahnen? Schon jetzt wird ja von einem Pflegenotstand gesprochen. Und dieser dürfte angesichts der körperlich und psychisch anstrengenden Arbeit der Pflegekräfte mit einer – aufgrund des gesamten Kostendrucks – letztlich unangemessenen Bezahlung eher schlimmer werden als besser.
Folgerichtig hat man vor allem im letzten Jahrzehnt in Diakonie, Politik und Kirche neue Wege zu beschreiten versucht, wobei vieles in der Umsetzung erstens schwieriger war, als man zweitens dachte. Wege, mit denen die Autonomie der Älteren und Alten stabilisiert werden soll, ohne dass dies zu Vereinzelung führt. Wege, die die Würde des Einzelnen – wohlgemerkt in jedem Alter! - bewahren hilft, indem man Teilhabe ermöglicht, Teilhabe an gesellschaftlichem Diskurs und Meinungsbildung, an Kultur, Nachbarschaft und sozialer Gemeinschaft.
[Foto von Kinderfoto damals / beiden spielenden Kindern heute - kann leider nicht dargestellt werden]
Mit dieser Zielsetzung war es naheliegend zu schauen, wie man nachhaltig die Generationen verbindet, wie man Solidarität fördert statt Feindschaft und Kampf. Die Idee der Mehrgenerationenhäuser bzw. der generationsübergreifenden Wohngemeinschaften als Win-win-Situation war sozusagen eine natürliche Geburt. Bei der Umsetzung solcher Projekte allerdings zeigt sich, wie schwer es ist, dass Alt und Jung nicht nur koexistieren, sondern sich auch kennenlernen, verbinden und nützen. Es geht um mehr als neue Wohnformen und Stadtteilprojekte, es braucht, davon bin ich überzeugt, auch ganz bewusste, neue Kommunikationsformen, die das Gespräch der Generationen gezielt aufbaut.
Glücklicherweise gibt es dazu in Einrichtungen der Diakonie oder auch seitens der Kitas und Eltern-Kind-Gruppen in Kirchengemeinden wunderbare Initiativen. Gemeinsam mit den Senioren zum Beispiel wird im Elbschloss an der Bille (Stadtteil Hamm) gebacken und gekocht, es wird in Barmbek im benachbarten Seniorenheim ein Erzählcafé mit Konfirmanden eingerichtet, es werden mit ursprünglich kirchlichen Initiativen wie „Wellcome“ ehrenamtliche Großeltern an junge Familien vermittelt, denen das Neugeborene gerade das Haus auf den Kopf stellt.
[Bild mit der Faust / Babyfaust - kann leider nicht dargestellt werden]
Und noch einmal: Es geht um Kommunikation in dem Bewusstsein, dass das Alter nicht nur Einschränkung und das Kind-Sein nicht nur Entwicklung bedeutet; der Dialog der Generationen zielt geradezu darauf, bei den einen das Kind und dem anderen die Weisheit zu entdecken. Wie könnte dies schöner symbolisiert sein als durch diese kleine, knurrige, faltige Babyfaust?
Ich will dich tragen bis zum Alter…Denn du sollst leben. Leben, das ist das Ziel, sagt der Prophet Jesaja an anderer Stelle. Leben. Mit den Potentialen und den Einschränkungen. Das heißt, beides realistisch einzuschätzen und – in allen Lebensaltern – die Grenzen und Möglichkeiten gleichermaßen auszuloten. Auf dem Arbeitsmarkt hat diese alte Erkenntnis zu neuen Einsichten geführt. So findet in vielen Konzernen ein Change-Management statt, mit dem man nicht mehr ausschließlich auf schnelle, mobile, junge ArbeitnehmerInnen setzt, sondern in einem gutem Maß auf das Erfahrungswissen der bereits (mehrfach) in den Ruhestand verabschiedeten Leistungsträger zurückgreift.
[Foto von jungem Mann und alter Frau und Teegeschirr- kann leider nicht dargestellt werden]
b) Biographiearbeit
Was Sie hier sehen, ist nicht nur das anrührende Zusammenspiel des jungen Diakons mit einer alten, schwer dementen Frau. Was Sie hier sehen, ist „Leben im Alter“, ist ein Projekt, mit dem sich Kirchengemeinden vor Ort angesichts der demografischen Entwicklung verändern. Denn auch dort gilt es ja, sich auf zunehmend aktive Ältere im sogenannten 3. Lebensalter, die ehrenamtlich mitwirken wollen, einzustellen und auf viele Hochbetagte im 4. Lebensalter. Beides bedeutet einen Paradigmenwechsel vom (salopp gesprochen) „Betreuungs- und Betüddelungsprogramm“ hin zu gezielter Begleitung. Und eines der erfolgreichsten Projekte ist dabei die Biographiearbeit, weil sie der individuellen Lebensgeschichte – wie Klaus Dörner sagt – zur Bedeutsamkeit verhilft.
Was Sie also hier auf diesem Foto sehen, ist die Kindheits-Erinnerung, die den Tag hell und die Seele froh macht; im Hantieren mit dem Puppenservice kommt die alte Dame nach langer Zeit der Desorientierung wieder bei sich an. An die Biographie anzuknüpfen und damit das gelebte Leben zu würdigen, hat nachweisbar heilsame Funktion; gerade bei Dementen. Und so geht der Diakon sowie etliche von ihm fortgebildete Ehrenamtliche aus der Kirchengemeinde regelmäßig ins Pflegeheim, in dem 40% der Bewohner dement sind, und sprechen und spielen mit ihnen. Ich finde dies einen beispielhaften Brückenschlag zwischen Pflegeheim und Kirchengemeinde, wie ich es mir viel öfter wünschte! Und die Pflegekräfte haben auch etwas davon. Sie, die infolge der gesetzlichen Rahmenvorgaben oft nur gehetzt das Arbeitspensum schaffen können, die sich oft wünschten, mehr Zeit zu Gespräch und Zuwendung zu haben – für sie sind biographische Notizen erhellend, um manch verwirrende Handlung besser zu verstehen. Es ist doch bei Dementen auch so vieles richtig im angeblich Falschen! Dass beispielsweise eine stets auf penible Reinlichkeit bedachte Dame ihre Windel wäscht und auf dem Flur herumirrt und eine Wäscheleine sucht, ist doch letztlich ein logisches Handlungsmuster. Nur die Voraussetzung stimmt nicht mehr: Sie hat vergessen, dass sie keine Schlüpfer mehr trägt.
Die innere Haltung der Biographiearbeit ist segensreich, weil wichtiger Kontrapunkt in unserer Gesellschaft: nicht urteilen, nicht korrigieren, sondern verstehen. Und so komme ich zum letzten Begriff: der
c) Seelsorge
Die Seelsorge ist die Muttersprache der Kirche. Sie ist uns mitgegeben - von dem Moment an, in dem Jesus den Verwirrten beruhigt hat, die Kranke geheilt, die Sünderin angehört, den Suchenden gefragt hat: Was willst du, dass ich dir tu? Mit Gestus, Wort und Ritual ist sie eine vielschichtige Sprache der Zuwendung, die Menschen hilft, sich selbst zu verstehen, sich selbst zu befragen und sich in den Grenzsituationen des Lebens getragen zu fühlen. Und so ist sie die Sprache, die wir als Kirche in die Gesellschaft einbringen. Und, wie ich finde, die wir vermehrt einbringen müssen. Professionell. Sensibel. Zeitgemäß und zuverlässig. Im Zusammenspiel von Haupt- und Ehrenamtlichen, von Stadt, Diakonie und Kirche. An den Zäunen und in den Heimen, wo man ihrer besonders bedarf.
[Bild einer alten Frau - kann leider nicht dargestellt werden]
Dazu eine letzte Geschichte.
Annemiete liebte wie ich Kohlrouladen und so lernten wir beiden Dithmarscherinnen uns im Pflegeheim am Mittagstisch kennen. Ich habe sie oft besucht, denn sie war eine einzige Geschichte. Sie würde wohl langsam alt, meinte sie, sie erzähle so viel von früher. Nun ja, sagte ich, 93 kann man noch nicht wirklich als alt bezeichnen. Und dann kicherte sie. Das Feine (Annemiete war sonst bestimmt nicht das, was man eine feine Dame nennt) war ihr Humor. Wenn der Sensenmann zu ihr käme, sagte sie manchmal, müsse er eine gute Portion Humor mitbringen, sonst überlebe der das nicht.
Eines Tages ist Annemiete ganz durcheinander. Und zögernd rückt sie heraus mit der Sprache: Sie hatte „ihn“ gesehen. Dort an der Tür. Er stand und hat sie ganz lange angeschaut und ist wieder gegangen.
Wie sah er denn aus? frage ich.
Dunkel.
Wer glaubst du, war es? Der Sensenmann?
Nein, sagt sie. Zögert. Vielleicht der Engel. Sie hat Angst, das spüre ich. Und behutsam reden wir über diesen, über ihren Engel. Er kommt, um mich zu holen, sagt sie schließlich ganz ruhig. Und es ist fast so, als wäre sie erleichtert. Findest du das nicht ziemlich spökenkiekerig? fragt sie. Nein, sage ich. Das finde ich überhaupt nicht.
Einige Wochen später erzählt sie ganz aufgeregt, dass er wieder da war. Er stand am Bett, viel freundlicher. Gesagt hat er wieder nichts. Doch sie ist sich jetzt sicher. Dass sie nach Hause kommt. Zu ihrem Heinz. Endlich. Wenige Tage darauf stirbt sie.
Ich habe das öfter erlebt: Am Übergang steht ein Mittler zwischen dieser und jener Welt und nimmt bei aller Unausweichlichkeit dem Tod seinen Stachel. Er spricht wie alle Engel das „Fürchte dich nicht“, ohne zu leugnen, dass es Schmerz gibt und Ängste. Er weiß um die Angst vor der Dunkelheit. Davor, nicht mehr selbst bestimmen zu können, wann ich leben und wann ich sterben will. Er weiß um die Ängste und trägt sie mit.
[Bild vom alten Mann mit dem Pfleger - kann leider nicht dargestellt werden]
„Auch bis in euer Alter bin ich derselbe, und ich will euch tragen, bis ihr grau werdet. Ich habe es getan und ich werde heben und tragen und erretten.“ So heißt das Bibelwort Jesajas nun vollständig und meint: Die Gnade bleibt. Denn es gibt so viele - mag sein, es sind Engel - die heben und tragen. Und sie zeigen: Die Gnade bleibt, wenn der Mensch wird, wächst und vergeht. Sie bleibt, wenn er träumt, zweifelt, denkt, wenn er liebt und begehrt, wenn er rennt und hinfällt, sie bleibt, wenn einem Hören und Sehen vergeht. Die Gnade bleibt. Welch Kraft ist diese Botschaft der Seelsorge in einem Gesellschaftsspiel, in dem die Karten manchmal allzu ungnädig verteilt scheinen. Was soll ich noch sagen: Eine Kraft, die hebt und trägt und rettet.
[Foto einer alten Frau, die schaukelt - kann leider nicht dargestellt werden]
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit