8. Juli 2018 | Dom zu Lübeck

Wer reden will, muss hören können

08. Juli 2018 von Gerhard Ulrich

Predigt am 6. Sonntag nach Trinitatis zu Apg 8, 26 - 39

26 Aber der Engel des Herrn redete zu Philippus und sprach: Steh auf und geh nach Süden auf die Straße, die von Jerusalem nach Gaza hinabführt und öde ist.
27 Und er stand auf und ging hin. Und siehe, ein Mann aus Äthiopien, ein Eunuch und Mächtiger am Hof der Kandake, der Königin von Äthiopien, ihr Schatzmeister, war nach Jerusalem gekommen, um anzubeten.
28 Nun zog er wieder heim und saß auf seinem Wagen und las den Propheten Jesaja.
29 Der Geist aber sprach zu Philippus: Geh hin und halte dich zu diesem Wagen!
30 Da lief Philippus hin und hörte, dass er den Propheten Jesaja las, und fragte: Verstehst du auch, was du liest?
31 Er aber sprach: Wie kann ich, wenn mich nicht jemand anleitet? Und er bat Philippus, aufzusteigen und sich zu ihm zu setzen.
32 Die Stelle aber der Schrift, die er las, war diese (Jesaja 53,7-8): »Wie ein Schaf, das zur Schlachtung geführt wird, und wie ein Lamm, das vor seinem Scherer verstummt, so tut er seinen Mund nicht auf.
33 In seiner Erniedrigung wurde sein Urteil aufgehoben. Wer kann seine Nachkommen aufzählen? Denn sein Leben wird von der Erde weggenommen.«
34 Da antwortete der Kämmerer dem Philippus und sprach: Ich bitte dich, von wem redet der Prophet das, von sich selber oder von jemand anderem?
35 Philippus aber tat seinen Mund auf und fing mit diesem Schriftwort an und predigte ihm das Evangelium von Jesus.
36-37 Und als sie auf der Straße dahinfuhren, kamen sie an ein Wasser. Da sprach der Kämmerer: Siehe, da ist Wasser; was hindert's, dass ich mich taufen lasse?
38 Und er ließ den Wagen halten und beide stiegen in das Wasser hinab, Philippus und der Kämmerer, und er taufte ihn.
39 Als sie aber aus dem Wasser heraufstiegen, entrückte der Geist des Herrn den Philippus und der Kämmerer sah ihn nicht mehr; er zog aber seine Straße fröhlich.


Liebe Gemeinde,

I
Dieser Sonntag erinnert uns an unsere Taufe mit dieser wunderbaren, vertrauten Taufgeschichte aus der Apostelgeschichte des Lukas.

Philippus heißt die Hauptperson dieser Geschichte. Er wird durch einen Engel Gottes auf die Straße geschickt, die von Jerusalem nach Gaza führt. Dort kommt ihm ein Wagen entgegen.  Auf ihm sitzt ein Mann, die zweite Hauptfigur der Geschichte.  Seiner Kleidung sieht man an, dass er ein Fremder ist, von weit her, aus Äthiopien – nach damaliger Vorstellung am Ende der Welt. Er hatte die lange und beschwerliche Reise unternommen, um nach Jerusalem zu gehen, um zu Gott zu beten. Er ist, wie Lukas schreibt, ein Eunuch – ein seiner Männlichkeit beraubter Mensch. Diese Menschen sind nicht selten in den Kulturen der Antike. Die Kastration erfolgt mal aus Strafe, mal, um böse Geister zu vertreiben. Aber sie geschieht auch, um für besondere Ämter vorzubereiten, um sich zu konzentrieren auf besondere Aufgaben. Es ist dieser Mann ein Minister am Hofe der Königin, eine einflussreiche Persönlichkeit, gebildet und weltgewandt. Einer, der vieles über die Welt weiß. Aber diesen Gott, von dem erzählt wird: er habe sein Volk gerettet und dieses ganze Volk mache sich auf die Reise immer neu, um ihn anzubeten in Jerusalem – von diesem Gott weiß er fast nichts. Aber irgendwie ist er neugierig, will erfahren, ob das stimmt, was die Leute sagen von seinen Verheißungen und seiner Kraft.

Wohl ist es auch die Sehnsucht nach Ganzheit, nach Heil, die ihn die Reise machen lassen, nach Zugehörigkeit. Die Sehnsucht nach einem anderen, heilen Leben mag den Eunuchen treiben aus seinem vertrauten Umfeld heraus; Sehnsucht nach einer Kraft, die den Alltag aufreißt, hinaus führt aus engen Grenzen, nach Würde, die unantastbar ist, nach Respekt. Sehnsuchtsort Jerusalem! Der Ort, wo Gott wohnt, sein Volk sammelt.

Globalisierte Welt schon damals: man weiß von anderen Kulturen, Religionen. Man hört und ahnt. Man spürt das Kraftfeld Gottes, das keine Grenzen kennt.

Für viele ist deswegen heute Europa so ein Sehnsuchtsort von Afrika aus: da sind Frieden und Freiheit; da sind Gerechtigkeit und Recht. Da ist Respekt vor der Würde. Da ist der Traum von der Einheit der Verschiedenen.

Und dann geht es vielen eben doch so, wie dem Eunuch aus Äthiopien: Zurückweisung droht. Man behandelt sie wie Bauklötze, redet über sie wie über Sondermüll, der irgendwie entsorgt gehört. Sie sind eine Last. Und ihre Fremdheit irritiert und macht Angst. Denn um Pluralität aushalten zu können, braucht es eine eigene Haltung, Wissen, wo wir selber Halt finden und Orientierung.

Der Eunuch kommt zum Tempel, kann aber nicht vordringen ins Innerste. Ein Eunuch war nach dem Gesetz des Mose vom Tempelgottesdienst ausgeschlossen und durfte allenfalls den äußeren Vorhof des Jerusalemer Tempels betreten. Enttäuscht macht er sich auf die Rückreise, wenig schlauer nur als zuvor. Aber immerhin: eine alte Schriftrolle hat er mitnehmen können aus dem Tempelbezirk, die hat man ihm, dem Fremden, überlassen. Es ist eine, auf der die Worte des Propheten Jesaja aufgeschrieben sind. Und nun sitzt er auf der Rückreise in seinem Wagen, die Rolle auf dem Schoß, und liest in ihr – laut und vernehmlich.

Doch die lange Reise wird trotz des geringen Erfolgs in Jerusalem zu einer lohnenden: Denn Gott selbst ist plötzlich da, führt die Regie.

Philippus steht am Wegesrand. „Geh hin und halte dich zu diesem Wagen“, hatte der Engel gesagt.

II
Das ist das erste: dass wir uns senden lassen, dahin, wo die Menschen unterwegs sind. Nicht, was uns vielleicht wichtig ist, haben wir zu verfolgen, sondern die Menschen haben wir zu suchen, die uns an unseren Wegen begegnen – mit ihren Geschichten und Sorgen, Freuden und Lasten, mit ihrer Autonomie und ihrem Eigenwillen.

Eine missionarische Geschichte ist das, die erzählt von einer Sendung, die beginnt mit dem Hören, nicht mit dem Reden oder Tun. So wie alles Handeln der Kirche aus dem Hören kommt. Wer reden will, muss hören können. Hören auf Gottes Wort zuerst und immer wieder – und sodann hören auf das Wort der Geschwister im Glauben und auch der Zweifler im Glauben. So kann das Evangelium weitergesagt, mehr noch: weitergetragen werden, damit alle Menschen teilhaben an der Fülle des Lebens, die Gott uns in Christus geben will.

III
Philippus hört, wie der Mann sich mit der Schriftrolle abmüht – laut und vernehmlich tut er das.

„Verstehst du auch, was du liest?“ – Philippus nimmt ihn ernst, den Reisenden. Und diese Frage ist deshalb eine entscheidende, weil sie in der Flut der Informationen zum Innehalten anhält, um zur Erkenntnis zu kommen, zur Mitte. Wir sind den Fluten von Informationen ausgeliefert, die auf uns einprasseln und uns mitunter verzweifeln lassen. Solche Verzweiflung klingt in der nächsten Frage der Geschichte an: „Wie kann ich, wenn mich nicht jemand anleitet?“.

Der Fremde gewinnt Vertrauen in Philippus: Wie kann ich deine Religion; deine Kultur kennenlernen, wenn ich nicht hineingelassen werde? Wenn ich zurückgewiesen, abgewiesen werde? Wenn mein Sehnsuchtsort sich absperrt gegen mich, weil ich anders bin, ohne Schuld in Not geraten?

Wir bewahren die eigene Kultur nicht, indem wir uns abschotten, sondern indem wir sie erzählen, indem wir uns einlassen auf das Fremde, Andere, Fragende. Philippus weiß: Glauben ist mehr als Fakten kennen. Ist Verstehen, hineinsehen, den Grund entdecken.

Komm rauf auf meinen Wagen, fahre ein Stück mit mir. Keine Abwehr, sondern Einladung. Und da sitzen sie auf dem Wagen: der Fremde und Philippus. Und Philippus erzählt ihm von Gott, wie er die Menschen liebt. Er legt ihm die Stelle des Propheten Jesaja aus, aus dem Lied über den leidenden Gottesknecht, der wie ein Schaf zur Schlachtbank voller Vertrauen seinem Vater folgt. Wie ein Lamm, das verstummt. Und in dessen Erniedrigung aufgehoben ist das Urteil des Richters und der in den Himmel aufgenommen ist.

Und da kommt die nächste Frage: „Von wem redet der Prophet da…?“

„Philippus aber tat seinen Mund auf und fing … an und predigte ihm das Evangelium von Jesus“. Und erzählt von Jesus, erzählt, was er selbst glaubt. Erzählt von Jesus, dem gerechten, der unschuldig zu Tode gebracht wird am Kreuz, so, dass mit ihm ausgelöscht scheint sein Geschlecht, seine Nachkommenschaft. Gott aber stellt sich an die Seite dieses Erniedrigten, hebt auf das Urteil, das die Welt über ihn gefällt hatte. Philippus bietet an, was ihn selbst trägt und was die Taufe uns schenkt: wir alle sind aufgehoben in dieser Gemeinschaft mit Gott. In ihm sind alle unsere Sünden, unsere Schuld und unsere Unzulänglichkeit aufgehoben und geborgen. In ihm dürfen wir neu werden, neu anfangen, frei. Und so, wie Gott Ja sagt zu dem einen, sagt er Ja zu uns, zu jedem von uns – gleichgültig woher wir kommen, was uns zeichnet oder trennt. 

So, wie der Äthiopier den Philippus auf seinem Wagen mitnimmt, nimmt Philippus den Äthiopier mit auf die Reise durch die Geschichte Gottes mit den Menschen. Erzählt von der Liebe Jesu zu den Schwachen und Armen. Erzählt von den wunderbaren Dingen, die geschehen denen, die glauben. Erzählt, dass die Schwachen schwach und die Starken stark sein dürfen, dass die am Rand wertvoll sind wie die in der Mitte der Gesellschaft. Erzählt, dass Gott der Freund der Menschen ist. Dass er will, dass alle Leben haben in Fülle.

Den Mund auftun und predigen das Evangelium: Das ist unser Auftrag, der aus der Taufe gekrochen kommt.

Ich habe in Mecklenburg und Pommern viele Begegnungen mit Menschen von außen, mit Quer-Fragenden und Provozierenden. Mit solchen, die Gott vergessen haben oder sogar vergessen haben, dass sie Gott vergessen haben. Der kulturgeschichtliche Hintergrund des Christentums ist ihnen meistens nicht verfügbar. Und ich habe gelernt, diese Menschen nicht deswegen für defizitär zu erklären, weil sie über viele Jahre hinweg sagten, sie seien ganz gut ohne Gott ausgekommen. Ich habe hier schon einmal die Geschichte erzählt von einem, der sich Atheist nennt und der mich herausgefordert hatte mit seiner Neugier: „Ich wollte schon lange einmal  sagen: ich finde es total verrückt, dass Sie an einen Gott glauben, den Sie mir nicht beweisen können!“ Und ich hatte ihm geantwortet: „Ich würde verrückt werden, wenn ich nicht glauben könnte, wenn ich davon ausgehen müsste, dass alles in dieser Welt in der Menschen Hand liegen würde; wenn ich nicht darauf vertrauen dürfte, dass da einer am Werk ist, der den Weg des Friedens und der Gerechtigkeit weiß und zeigt, der höher ist als unsere Vernunft…“

Hier habe ich gelernt, mit Gott zu rechnen da, wo er als vergessen gilt. Und in den Fernen die Nahen zu erkennen. Solche Mission beginnt mit dem Sich-Aussetzen der fremden Kultur.

Wir sollen hingehen, ihnen Philippa und Philippus sein. Sie fragen: Verstehst du, was du liest, was du siehst, was du hörst? Die Neugier wahrnehmen: erzähl mir von deinem Glauben.

Und wir sollen mit ihnen gehen ein Stück des Wegs, von Gott Gesandte, dass wir weitersagen, was wir glauben. Auslegen die Schrift, das Wort. Denen, die mit uns reden wollen, helfen, zu entdecken, woher sie kommen. Damit sie wissen, wohin sie gehen können. Dazu will Gott uns brauchen. Geh-hilfen sind wir.

 IV
„Gott hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen, dass sie dich auf den Händen tragen und du deinen Fuß nicht an einem Stein stößest.“– So heißt es im 91. Psalm. Gott zeigt sich: er stellt uns seine Engel an unseren Wegesrand, Menschen wie den Philippus in unserer Geschichte, die uns helfen, zu verstehen die Fülle des Lebens, die uns Gewissheit geben, die uns behüten und begleiten. Die uns zeigen, wie Gott es mit dem Leben meint: dass wir einander lieben – annehmen also, wie wir sind – umsorgen, helfen behüten, gnädig miteinander umgehen. Viele von uns haben so einen Philippus oder eine Philippa am Lebensweg, die ein Stück mit gehen. Zuhören. Fragen. Wer solches erfährt, kann selbst weitergeben, selbst werden zum Boten Gottes.

V
Etwas von der Begeisterung in Philippus Glauben muss sich da auf der Straße von Jerusalem nach Gaza mitgeteilt haben: Als sie an einem Wasser vorbeikommen, lässt der Fremde halten: „Was hindert‘s, dass ich mich taufen lasse?“ Eine Frage mehr an sich selbst als an den anderen gerichtet. Etwas von dem, was wir Christen glauben, vielleicht nicht alles, aber ein wichtiges Stück hat er im Hören auf das Wort der Schrift und im Gespräch mit Philippus schon verstanden: dass alles Leben von Gott kommt, der Himmel und Erde erschaffen hat. Und dass es bleibt in seiner Hand. Darauf will er jetzt auch vertrauen, sich darauf einlassen und darum getauft, gesegnet werden – dazugehören. Dieser Zusage glaubt er: dass bei Gott alles Leben geborgen ist, geleitet über Höhen und auch durch Tiefen, die zu jedem Leben dazugehören. Auf Gottes Kraft vertraut er nun. Und kann getrost zurückkehren ans „Ende der Welt“.

Dazu wird Philippus nicht mehr gebraucht. Gott nimmt ihn heraus aus der Szene. Die Lebensgeschichte des Mannes aus Äthiopien geht jetzt allein weiter. Auch das gehört zur Gottesliebe und zur Menschenliebe: Loslassen können. Gehen lassen können.

Die Geschichte endet mit einem wunderbaren Satz: „Er zog aber seine Straße fröhlich“! Der Eunuch entdeckt in der Taufe den Raum, der ihn trotz seiner Verletzungen, trotz seiner Einschnitte fröhlich leben lassen kann. Dass er ein ganzer Mensch ist vor diesem Gott, der sich den Erniedrigten zuwendet und in ihnen seine Nachkommen zeigt wie in allen Geschöpfen: nichts bleibt, wie es war!
Amen.

Datum
08.07.2018
Quelle
Stabsstelle Presse und Kommunikation
Von
Gerhard Ulrich
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