Wir verneigen uns in Trauer vor den Toten
15. November 2015
Vorletzer Sonntag des Kirchenjahres, Gedenkrede zur Gedenkfeier des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge am Volkstrauertag
Wir sind ergriffen vor Trauer. Erschüttert und entsetzt über diese unerträgliche Gewalt des Terrors. Heute am Volkstrauertag 2015 steht die ganze Welt fassungslos vor den Anschlägen in Paris. In der einen Minute noch Musik, Lebensfreude und Freundschaftsspiel, in der nächsten Feindschaft, Grauen, Tod und Angst. Das ganze Volk trauert mit den Familien in unserem Nachbarland, die Angehörige verloren haben oder die gerade in diesen Minuten um das Leben ihres Kindes, Partners, ihrer Eltern bangen. Opfer der Terrormiliz „Islamischer Staat“, die in barbarischer Weise als selbsternannte Richter über Leben und Tod ihre kranken Gewaltexzesse ausleben. Um es in aller Deutlichkeit zu sagen: Diese Anschläge sind in ihrer Menschenverachtung zutiefst böse und haben nichts, aber auch wirklich nichts mit Religion zu tun. Im Gegenteil: Gewalt ist grundsätzlich mit keiner Religion vereinbar. Die Religionen stehen ausnahmslos für den Schutz von Leben. Um Gottes Willen sollen wir Werkzeuge des Friedens sein, ganz gleich, mit welchem Namen wir ihn anrufen. Und deshalb müssen wir heute an diesem Volkstrauertag dem Hass entgegentreten, geeint, als Europäer und Christen, mit anderen Religionsgemeinschaften und Weltanschauungen gemeinsam. Der Terror wird nicht das letzte Wort haben, wenn wir unbeirrt an unseren Werten festhalten.
Am Volkstrauertag trauern die Völker gemeinsam. Heute. Und morgen auch. Weil es wichtig ist zu erinnern, zu welcher Grausamkeit Menschen fähig sind. Wir haben es gesehen. Vorgestern. Und vor sieben Jahrzehnten. Und so verbindet sich die Trauer über die jüngsten Opfer totalitärer Gewalt mit der Erinnerung, die ans Innerste geht. Die uns mahnt: So viel Leid ist einst von deutschem Boden ausgegangen! Die uns mahnt: Nie wieder Krieg!
In einem Interview wurde Helmut Schmidt vor ein paar Monaten gefragt: „Wenn Sie heute nach 70 Jahren auf das Ende des Krieges zurückblicken: Gibt es immer noch Narben, die nicht verheilt sind?“ Helmut Schmidt hat einen Moment überlegt und dann geantwortet: „Meine Generation wird die Narben mit ins Grab nehmen.“
Ein Satz, der mir nun, da er vor einigen Tagen gestorben ist, besonders nachgeht. Weil er so wahr ist. Die tiefen Schrecken des Krieges wird man nicht einfach los. Heilt die Zeit auch manche Wunde, die Narbe bleibt. Nicht nur für den einzelnen Menschen ist sie sicht- und spürbar, sondern auch für unser Land und diese Stadt. Wer mit offenen Augen durch Lübeck geht, der sieht trotz aller gelungenen Rekonstruktion diese Narben der Zerstörung im Stadtbild.
Und ich erinnere mich an die Begegnung mit einer alten Dame bei einer Gedenkveranstaltung. Wie bei Helmut Schmidt, ja vielen alten Menschen aus der Kriegsgeneration spüre ich: Die Erinnerung geht immer wieder hautnah. Erschüttert fängt sie an zu erzählen, vom Feuersturm, der im Juli 1943 große Teile Hamburgs in Schutt und Asche legte. So wie der Bombenhagel am Palmsonntag auch hier in Lübeck wütete. Sie und ihr Mann waren an dem Juliabend tanzen. Bei Freunden. Es war so ein schöner Tag und ihr Mann hatte Fronturlaub. Ausnahmsweise haben sie ihr Kind in der Obhut der Schwester gelassen. In ihnen war solch eine Sehnsucht nach Leichtigkeit, nach warmem Sommer, nach: “Tanze mit mir in den Morgen“. Nie vergisst sie das Bild, als sie zurückkommen. Wie sie vor ihrem zerstörten Haus und ihrem zerschlagenen Leben stehen. Der Kinderwagen in den Trümmern. Nie wieder haben sie richtig gelebt, sagt sie.
Nie wieder, sagt sie. „Nie wieder dieses Leid, nie wieder Krieg!“, höre ich. Und schaue auf die vielen Kriege derzeit in aller Welt, so viele wie selten seit 1945. Dieses sinnlose Sterben und Töten! Längst doch ist es genug! Der Volkstrauertag will, dass wir innehalten. Um des Vergangenen zu gedenken, das uns heute mahnen will. Es braucht das Mitgefühl im Jetzt. Es gehört zur Würde eines Volkes, der Trauer immer wieder Raum zu geben.
Und so gedenken wir heute derer, die durch Krieg und Terror, Gewalt und Diktatur ihr Leben verloren haben. 150 Millionen Gräber allein in den letzten beiden Weltkriegen! So viele gefallene Soldaten. Geliebte Söhne und Väter. Unvorstellbar viele versehrte Lebensgeschichten. Zerschossene Träume gemeinsamer Zukunft. Bombenfeuer und Kinderwagen ohne Kinder darin. Wir gedenken der Millionen Opfer von Rassenwahn und nationalsozialistischem Terrorregime. Wir trauern um sie alle, die wegen ihrer Überzeugung, ihrer Religion oder einfach nur, weil sie waren, wie sie waren, verfolgt und ermordet wurden.
Wir gedenken der Flüchtlinge auch damaliger Zeit. Denken an Kälte und Tod auf der Flucht. Wir gedenken ihrer, die im Schatten eines Diktators versteckt wurden, dem man als Lichtgestalt unverdrossen zujubelte. Wir gedenken ihrer, die Gefangenschaft erlitten. Gestapo, KZ, Menschenversuche. Auf Folterschrei folgt Friedhofstille. Und die anderen, sie jubelten darüber hinweg. Immer noch 1943. Und 1945. Und heute bisweilen wieder.
Wir wissen nur zu gut, dass auch etliche in unseren Kirchen sich haben verführen lassen. Von Macht. Einfluss. Der „neuen Zeit“. Wir wissen, dass wir in unseren Gemeinden entschiedener der Gleichschaltung hätten Hausverbot erteilen müssen. Dass wir hätten mutiger widerstehen, klarer Widerworte sprechen und inständiger hätten beten müssen. Dass wir wahrhaftiger hätten unseren Glauben bekennen müssen in einer vor Hass tobenden Welt.
Und so ist da immer auch Schuld. Und für unsere Generation immer auch Verantwortung, all dies nicht zu vergessen. Wachsam zu bleiben. Wir müssen klar die Stimmen erheben gegen diejenigen aus der Mitte unserer Gesellschaft, die heutzutage die Ängste und den Hass schüren und die Besorgnisse von Bürgerinnen und Bürgern in diesen aufgewühlten Zeiten als Brandbeschleuniger benutzen. Wir müssen die Stimme erheben, denn Schweigen heißt dulden. Nein, sagen wir. Nein! zu Rechts. Sagen Nein! zu Ausländerfeindlichkeit und Rassismus, zu Antisemitismus und Islamfeindlichkeit.
Und das heißt zugleich: Ja! Ja - zum Frieden unter den Völkern. Ja - zu Liberté, Egalité, Fraternité! Dieses Ja sagen heutzutage so ermutigend viele junge Menschen. Sie sprechen dabei die Sprache der guten Tat. Zum Beispiel in Bad Oldesloe; eine wunderbare Geschichte, wie ich finde: Auf dem örtlichen Friedhof lagen fast vergessen 14 bemooste und zugewachsene Kriegsgräber russischer Zwangsarbeiter. Manche waren erst 15,16 Jahre alt, als sie starben. So entstand die Idee, einfach zehn junge Leute aus Russland einzuladen. Gedacht, getan. Die Kirchengemeinde organisierte den Besuch, die russische Botschaft bezahlte die Reise, der Volksbund deutsche Kriegsgräberfürsorge finanzierte die Reparatur der Grabsteine, Sparkassenstiftung und Lions Club gaben Geld für die Aktivitäten der jungen Leute, denn die wollten in der einen Woche natürlich auch Hamburg, Lübeck und andere Orte kennenlernen. „Ich hoffe, ihr kommt mal nach Russland, wir sind doch jetzt Freunde“, sagte eine junge Russin beim Abschied.
Die Begegnung ist das Geheimnis des Friedens. Sie öffnet Horizonte, bricht Vorurteile auf. Die Begegnung macht Menschen einfühlsam. So wie derzeit hier in Lübeck und in anderen Städten unzählige Menschen als Helferinnen und Helfer im Einsatz sind, um die Not von Flüchtlingen zu lindern. Gerade die jungen unter ihnen erzählen, durchaus auch mit Stolz, wie sie eine kranke Frau zum Arzt gebracht oder einer Familie ein warmes Quartier wenigstens für eine Nacht verschafft haben. Aber man merkt auch, wie ihnen die Begegnungen nahegehen. Wenn sie verfrorene Kinder sehen oder Männer mit kaum behandelten Schusswunden. Die Flüchtlinge, die jetzt in unser Land kommen, lassen die Schrecken des Krieges auch in unserem Land wieder sichtbar werden. Auch ihre Narben werden ein ganzes Menschenleben lang zu sehen und zu spüren sein.
Unsere Welt ist sehr klein geworden in diesen Zeiten. Es gibt nicht mehr die Trennung zwischen „dort in Syrien“ und „hier in Lübeck“. Oder "dort in Paris". Was an dem einen Ort geschieht, hat unmittelbare Auswirkungen auf den anderen. Es wird Zeit, eine gemeinsame Sprache für diese eine Welt zu finden. Worte und Taten des Friedens und der Geschwisterlichkeit. Manchmal sind wir viel zu leise! Viel zu leise stehen wir für Menschenrecht ein und Demokratie. Diese Werte aber sind es, die uns einen als ein Volk, das seine Geschichte nicht vergessen hat!
Trauert nicht wie die, die keine Hoffnung haben – das ist eines der trostvollsten Worte, dich kenne. Einst von Paulus denen zugesprochen, die untröstlich waren. Trauert nicht wie die, die keine Hoffnung haben. Denn Hoffnung trägt in sich die Kraft der Veränderung. Hoffnung lässt uns singen: Friede wollen alle auf der Welt! Hoffen, glauben, lieben, jedem bitteren Hass zum Trotz, das ist unsere Aufgabe!
Und ich sehe auf die Jugendlichen, wie sie auf den Soldatenfriedhöfen der Welt mit ganzen Feldern voller Kreuze nicht allein die Gräber pflegen, sondern auch die Versöhnung. Mit einer Selbstverständlichkeit, die mich beeindruckt hoffen lässt. Oder gestern Abend: Wir saßen gemeinsam zusammen mit 50 jungen Menschen in einer Kirche, um über eine wert-volle Zukunft zu diskutieren. Doch uns ließen die Ereignisse in Paris einfach nicht los. Spontan kam die Idee auf, ein Zeichen zu setzen: Lasst uns heute Abend und in den folgenden Tagen, eine Woche lang ab 18 Uhr abends eine Kerze ins Fenster stellen. Als Zeichen der Trauer über die Opfer in Paris. Aber auch als Zeichen des Protests, der Versöhnung, der Solidarität – als Zeichen des Lebens. Das ist, meine Damen und Herren, ein einziges: „NIE wieder!“ Nie wieder Gewalt und Terror, in wessen Namen auch immer. Mit ihrem Wort und ihrer Tat zeigen die jungen Menschen uns: Wir sind ein Volk von Geschwistern, das gegen die traurige Vergangenheit und die erschütternde Gegenwart die Vision einer gemeinsamen Zukunft setzt. Eine Zukunft, die das Leben liebt.
Was könnte versöhnender sein an einem so berührenden Volkstrauertag?
Wir verneigen uns in Trauer vor den Toten.