Wolfgang von Rechenberg in den Ruhestand verabschiedet
03. Juni 2024
Engagiert für die Würde und christliche Freiheit von Kindern und Jugendlichen: Der langjährige Referent für evangelische Schulen in der Nordkirche, Wolfgang von Rechenberg, ist in den Ruhestand verabschiedet worden. Er war auch Vorstandsvorsitzender der Evangelischen Schulstiftung in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).
Unsere Referentin in der Bischofskanzlei in Greifswald, Annette Klinkhardt, hat Wolfgang von Rechenberg anlässlich seines Ruhestandes getroffen.
Sie hat ihm einige Fragen gestellt, in denen er auf seine langjährige Arbeit und seine eigene Schulzeit zu DDR-Zeiten zurückblickt:
Religionsunterricht ist beliebt. In Mecklenburg-Vorpommern waren Sie als Referent in der Nordkirche zuständig. Es besuchen hier weit mehr Kinder und Jugendliche den Religionsunterricht als getauft sind oder sich zu einer Kirche zählen. Wie erklären Sie sich das?
Wolfgang von Rechenberg: Religionsunterricht eröffnet eine Dimension der Freiheit: Zweckfrei mit unseren jüdisch-christlichen Erzählungen und Deutungen in Berührung kommen und den Blickwinkel auf alltagstaugliche Lebens- und Glaubensweisheit erweitern.
Auf einen Blick: Evangelische Schulen in Mecklenburg-Vorpommern
- 600 Religionslehrerinnen und -lehrer
- 60 Schulen und Ausbildungsstätten
- 20 evangelische Schulträger in der gesamten Nordkirche
Und das im System Schule, das auch die Elemente der Pflicht, der Bevormundung und eines vorgegebenen Korsetts enthält. Schülerinnen und Schüler wählen sich den Tagesrhythmus nicht selbst, nicht den Ort, die Lerngruppe, die Themen oder die pädagogische Bezugsperson.
Und immer da, wo unthematisierte Unfreiwilligkeit ins Spiel kommt, ist es wichtig, eigene Gefühlslagen wahrzunehmen, Freude und Frust auszuhalten, sich selbst zu reflektieren und sich friedfertig auseinanderzusetzen. Und zwar in einem Klima, in dem sich Heranwachsenden gewertgeschätzt fühlen.
Im Religionsunterricht wird thematisiert, was Menschen frei macht: Jeder Mensch ist von Gott als freies Wesen gewollt und geliebt. Schülerinnen und Schüler haben ein Gespür für Anerkennung jenseits von Materiellem oder Likes. Glaube, Liebe, Hoffnung kosten nichts, sind jedoch unendlich wertvoll und können einseitiges Leistungsdenken ausbalancieren.
Diesen Raum, in dem junge Leute über den Sinn des Lebens nachdenken können, schätzen auch Eltern, die keine Berührung mit einer Religionsgemeinschaft haben.
Da sagte eine Mutter zu mir: ‚Mensch, toll, hier wird der Horizont meines Kindes erweitert, wie ich das zu Hause nicht schaffe.‘ Oder ein Vater erzählte mir, dass er streng atheistisch erzogen wurde, aber möchte, dass sein Kind sich auch mit einer religiösen Weltsicht und Glaubenshaltung auskennt und daraus Halt bezieht und Impulse für ein gewaltfreies Miteinander.
Welche Rolle spielen Religionslehrerinnen und -lehrer?
Wolfgang von Rechenberg: Sie sind hochqualifizierte Lehrkräfte. Genauso wie Chemielehrerinnen oder Englischlehrer sind sie pädagogische Fachleute für Beziehung.
Sie sorgen dafür, dass Lernen und Lehren in einem pädagogisch wohlwollenden Klima geschieht, sie fragen nach Träumen und Sorgen, sie setzen sich mit Konflikten auseinander und bleiben beharrlich dran. Lehrerinnen und Lehrer sind leider chronisch untergeachtet. Sie geben sich als Person ganz rein ins Lehr-Lern-Geschehen, das kostet Seelenkraft.
Die Religionslehrerinnen und -lehrer sind Geschichtenerzähler:
Gerade das Hören und Erzählen biblischer Geschichten ermöglicht auf angenehme, auch spannende Weise den Erwerb von Herzensbildung und Lebensweisheit und verbindet uns mit vorangegangenen Generationen.
Das ist ein hohes Gut und genau deshalb ist es so klasse, dass Religionsunterricht im Grundgesetz verankert und in der Landesverfassung geschützt und vom Schulgesetz MV gewollt ist.
Als Referent waren sie zuständig für das evangelische Schulwesen in der Nordkirche und engagierten sich seit 2019 ehrenamtlich als Vorstandsvorsitzender der Evangelischen Schulstiftung in der EKD. Warum brauchen wir Schulen in evangelischer Trägerschaft?
Wolfgang von Rechenberg: Um mit dem Slogan der sächsischen Schulstiftung zu sprechen: Das ‚Hauptfach Mensch‘ zieht sich durch den gesamten Unterricht.
Schulen in evangelischen Trägerschaften orientieren sich an der Gottesebenbildlichkeit und somit an der Gleichwürdigkeit aller Menschen. Kinder und Eltern werden unter diesem Blickwinkel gesehen, und die Heranwachsenden können sich in unseren Einrichtungen darin ausprobieren, Menschen so zu sehen.
An den rund Schulen und Ausbildungsstätten wirken Lehrerinnen und Lehrer mit einem bemerkenswerten Maß an Geduld, Verständnis, Einfühlungsvermögen und Entgegenkommen.
In Coronazeiten waren es nicht wenige, die im ländlichen Raum Schulaufgaben bis ans Gartentor gebracht haben.
Meine Frau und ich haben vor 25 Jahren in Parchim die Gründung der Paulo Freire Schule angeregt und dazu einen Verein gegründet.
1998 haben wir Blut und Wasser geschwitzt, ob wir wirklich 80 Anmeldungen bekommen, die Mindestzahl, damit die Schule wirtschaftlich funktioniert. Es sind 160 Kinder geworden, und heute gibt es Wartelisten.
Dass wir die Möglichkeit in unserer Verfassung haben, Schulen zu gründen in freier Trägerschaft, verhindert die Monotonie von Schulprogrammen und sorgt für einen Wettbewerb, der die Qualität von Schulen fördert und diktaturpräventiv zur Demokratiefähigkeit beiträgt.
Wichtig ist mir: Das Ziel der Schulen in evangelischer Trägerschaft ist eine gute Bildung. Und eine Bildungseinrichtung wird nicht für Zwecke der hinter ihr stehenden Institution benutzt.
Auch im Religionsunterricht geht es um eine umfassende Bildung, die ohne die auf die Fachwissenschaften Theologie und Religionspädagogik gestützte weltanschaulich-religiöse Bildung unvollständig ist.
Ein anderer Akzent ist die Beheimatung im evangelischen Glauben und eine lebendige Gemeinschaft von Christen - das ist das Anliegen einer jeden Kirchengemeinde.
Sie sind in Dresden aufgewachsen und haben eine Jugend in der DDR erlebt. Hat das ihr späteres Engagement in und für die Kirche beeinflusst?
Ich komme aus einer christlich geprägten Familie mit Tischgebet und Gute-Nacht-Gebet. Diese Frömmigkeit war auch von dem eigenen Erschrecken darüber geprägt, dass die Nazi-Diktatur nur wenig kritisch gesehen worden war.
Es hat mich als Kind tief beeindruckt, wie meine Mutter erzählte: ‚Wir haben für den Führer gebetet, was haben wir damit nur Schlimmes mitgemacht!‘
Während der Schulzeit erlebte ich zwei Welten, die völlig verschieden und hermetisch voneinander abgeriegelt waren: Die Welt der Christenlehre und das Schulgeschehen. Dort wurde der christliche Glaube bestenfalls lächerlich gemacht und als unwissenschaftlich in Abrede gestellt.
Ich erfuhr die radikale Abwesenheit von Transzendenz, von der biblischen Erkenntnis ‚Der Mensch lebt nicht vom Brot allein‘, die mich damals als Kind frösteln ließ.
Diese Schule wirkte auf mich wie ein fremder Planet. Und ich bin heilfroh, dass heute in Schulen – in staatlichen wie in gemeinnützigen Trägerschaften – im pädagogisch verantworteten Schulalltag auch einmal hinter Fassaden geschaut werden kann, nicht jede Frage nach Sinn mit einer Antwort niedergeknüppelt und Ambiguität ausgehalten wird.
Politisch aktiv war ich immer, weil sich christlicher Glaube unter dem Aspekt der ‚Freiheit eines Christenmenschen‘ nicht mit Übergriffen in einer Diktatur in Übereinstimmung bringen lässt.
Für mich als Jugendlicher waren christliche Spiritualität und theologisches Denken besonders attraktiv, weil es die Machtanmaßung der SED-Dikatatur in Frage stellte.
Der geflügelte Satz von Funktionären zu DDR-Zeiten hieß ‚Die Machtfrage ist geklärt‘ und enthielt menschenfeindliche Züge.
Dass die Machtfrage doch nicht so geklärt war, zeigte sich dann 1989 mit der friedlichen Revolution. Sie haben sich seit der beginnenden Demokratisierung im Ostteil Deutschlands politisch engagiert. Als in Parchim das Gebäude des Staatssicherheitsdienstes besetzt wurde, um zu verhindern, dass Akten vernichtet werden, waren sie dabei. Vermissen Sie etwas vom Glaubensleben bzw. der Gemeinschaft von Christen vor und während der friedlichen Revolution? Gibt es Erfahrungen von damals, auf die wir uns heute wieder oder stärker besinnen könnten?
Wolfgang von Rechenberg: Ich vermisse nichts, weil ich heute wie damals christliches Leben erfahre und mitgestalte und immer besonders glücklich bin, wenn rechts neben mir eine Muslima und links neben mir ein Atheist sitzt.
Ich erlebe zunehmend ‚christliche Atheisten‘, die sich mit mir zusammen für lebensdienliche Bildungsarrangements einsetzen, in denen das Erlernen und Gestalten von Beziehungskompetenz eine Rolle spielt, gelernt wird, wie Wissen angewendet und gleichzeitig auf Gefühlslagen geachtet wird, die unser Zusammenleben stark beeinflussen.
Zu DDR-Zeiten habe ich mir manches materielle Gut gewünscht, was ich jetzt habe. Heute wünsche ich mir stärker die Unabhängigkeit von Konsumhaltungen, damit wir maßvoll im Verbrauch werden und der Planet nicht weiter überhitzt wird.