Würdest du ein Herz zu vergeben haben?
02. Mai 2015
Ökumenischer Gottesdienst zum 70. Jahrestag des Gedenkens an die Befreiung des KZ Wöbbelin
Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.
Liebe Schwestern und Brüder,
gerade haben wir die großen Worte der Seligpreisungen gehört – Worte der Hoffnung und des Trostes: „Selig die Trauernden, selig, die Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden."
Doch klingt das nicht wie eine billige Vertröstung – an einem Tag, an dem wir uns dem Leiden stellen, das im Konzentrationslager Wöbbelin so vielen Menschen zugefügt wurde? Wer von uns Außenstehenden könnte Ihr Leid nachvollziehen, die Sie das Lager und die Märsche überlebt haben?!
Die unsäglichen Bedingungen im Lager: Baracken ohne Fußböden und Fenster mitten im eiskalten Winter, eine einzige Wasserpumpe für tausende Häftlinge! Arbeit bei Schnee und Kälte ohne zureichende Kleidung! Unterernährung! Traumatisierungen durch die Hölle auf Erden, die gewissenlose Deutsche entfesselt hatten! Die Angst vor den Wachmannschaften, die Angst, noch kurz vor dem Ende des Krieges umzukommen! Man konnte irrewerden – irre an den Menschen und an Gott…
Wer könnte dieses Leid ermessen, der es nicht selbst erlebt hat! Und so können wir uns nur vor Ihnen verneigen; denn das Leiden der Gerechten wiegt schwer auf der Waagschale des Lebens.
Nein, um billigen Trost geht es nicht. Lasst uns jene nicht vergessen, die untröstlich starben – voller Angst, hängend an ihrem ungelebten Leben. Lasst uns jene nicht vergessen, die ihr Leben einsetzten, damit die Gefangenen befreit wurden. Lasst uns jene unter den Inhaftierten nicht vergessen, die überlebten, aber an diesem Überlebt-haben trugen wie an einem Fluch. Ich will die Fragen der Opfer hören und mittragen – etwa die Fragen von Nelly Sachs, einer der Überlebenden der Shoa:
Wenn die Propheten einbrächen
durch Türen der Nacht
mit ihren Worten Wunden reißend
in die Felder der Gewohnheit,
ein weit Entlegenes hereinholend
für den Tagelöhner
der längst nicht mehr wartet am Abend –
Wenn die Propheten einbrächen
durch Türen der Nacht
und ein Ohr wie eine Heimat suchten –
Ohr der Menschheit
du nesselverwachsenes,
würdest du hören?
Wenn die Stimme der Propheten
auf dem Flötengebein der ermordeten Kinder
blasen würde,
die vom Märtyrerschrei verbrannten Lüfte
ausatmete –
wenn sie eine Brücke aus verendeten Greisenseufzern
baute –
Ohr der Menschheit
du mit dem kleinen Lauschen beschäftigtes,
würdest du hören?
. . .
Wenn die Propheten aufständen
In der Nacht der Menschheit
Wie Liebende, die das Herz der Geliebten suchen,
Nacht der Menschheit,
würdest du ein Herz zu vergeben haben?
Schwestern, Brüder, es sind Entscheidungsfragen, die uns hier gestellt werden: „Würdest du hören?"„Würdest du ein Herz zu vergeben haben?"
Normalerweise fordern Entscheidungsfragen ein klares Ja oder Nein. Doch wir spüren, wie schwer das Antworten hier fällt. Skepsis uns Menschen gegenüber ist nur zu berechtigt. Aber das entlässt uns nicht aus der Verantwortung, menschlich zu leben, es mit den Menschen zu wagen. „Ändert euren Sinn, so werdet ihr leben", sagt Jesus von Nazareth – und drückt damit zugleich aus: Es ist nicht unmöglich, wahrhaftig und menschlich im Sinne Gottes zu leben.
Mich beschäftigt immer wieder die Frage: Warum gab es damals so wenig Widerstandsfähigkeit unter uns Deutschen gegen die Ausgrenzung, Verfolgung und Vernichtung von Menschen, die angeblich oder tatsächlich anders waren? Diese mangelnde Widerstandsfähigkeit damals lässt mich fragen: Wo sind wir heute in Gefahr? Wo sind möglicherweise wir blind für unheilvolle Entwicklungen? Wo werden zukünftige Generationen mit dem Abstand der Geschichte kopfschüttelnd fragen: Wie konntet ihr das zulassen?
Vielleicht werden wir stumm vor den Schuldenlasten stehen, die wir diesen Generationen hinterlassen. Mit Ratlosigkeit vor dem Auswurf unserer Lebensweise, vor den Lagern unseres atomaren Mülls. Vielleicht fassungslos vor der himmelschreienden Ungerechtigkeit in der Verteilung von Lebensmitteln und Entwicklungschancen – hingenommen von uns, mehr oder weniger geduldet. Vielleicht werden wir uns zu verantworten haben wegen der Flüchtlinge, die an der Festung Europa gescheitert sind.
Ich will keine vorschnellen Antworten geben, an denen man sich abarbeiten und dann zur Ruhe setzen kann. Die Frage möchte ich wach halten, die Frage an uns selbst.
Und ich will hören auf die Orientierungen der Seligpreisungen:
- Gerechtigkeit! Sie erfüllt ein Menschenleben.
- Barmherzigkeit üben! Denn auch wir sind auf Barmherzigkeit angewiesen.
- Frieden stiften, denn das ist im Sinne Gottes!
Die Seligpreisungen Jesu haben orientierende Kraft. Sie machen deutlich, wofür zu leben sich lohnt, wie ein wahrhaft humanes Miteinander aussehen kann. Zugleich eröffnen die Seligpreisungen einen Horizont der Hoffnung, der weiter reicht:
- Gerechtigkeit wird werden! Gott wird dafür einstehen. Die Schurken kommen nicht einfach davon. Den Opfern soll Gerechtigkeit widerfahren.
- Jene, die Leid tragen, sollen getröstet werden – in der Ewigkeit Gottes sollen ihre Tränen getrocknet werden, ihre Wunden geheilt. In seiner Wirklichkeit sollen sie verwandelt leben.
Angesichts dieses Hoffnungs-Horizonts können wir frei und zuversichtlich Verantwortung für unsere Gesellschaft heute übernehmen. Wir müssen unsere Geschichte nicht verdrängen, sondern erinnern sie, um wach zu sein für unsere Zeit. Und das heißt auch: Überall da, wo Menschen auf dem Altar höherer Zwecke geopfert werden sollen – sei es im Namen eines Glaubens oder einer Ideologie – ist Widerstand geboten. Wo Fanatiker im Namen der angeblich guten Sache das Recht außer Kraft setzen wollen, gilt es, unser Grundgesetz zu verteidigen, das besagt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar." Denn es ist die Würde, die Gott jedem Menschen verliehen hat.
Tun wir, was in unserer Kraft steht, für mehr Gerechtigkeit – es wird unser Leben reich machen!
Üben wir uns in Barmherzigkeit – und wir werden erfahren, wie gut es uns selbst tut.
Treten wir ein für Versöhnung und gewaltfreie Konfliktbewältigung – wir werden dabei etwas von Gott erleben.
All das sind wir uns selbst schuldig, aber auch den Inhaftierten des KZ Wöbbelin.
Amen.