Andacht zum Tag der Arbeit
04. Mai 2024
Auftaktveranstaltung Tag der Arbeit mit Impuls von Bischöfin Kirsten Fehrs
Dieser Bauwagen hier in Altona Altstadt ist ein ganz besonderer, auch ganz besonders passender Ort für den heutigen Tag. Denn hier wird gelebt, was am 1. Mai stets und immer stark gemacht wird: Solidarität, hier auch gern genannt: Nächstenliebe.
Oder, das Wort gefällt mir angesichts der Krisen und Kriege in der Welt am besten heute, das versöhnliche Wir. Denn wir haben es derzeit mit so viel Zertrennung und Gewalt zu tun, mit unzähligen gordischen Konfliktknoten in der Welt, und auch in unserem Land mit einer angezählten Demokratie. Gewiss auch, weil es ein Phänomen gibt, das Soziologen „die Gesellschaft der Ichlinge“ nennt. Ichlinge sind Menschen, die ausschließlich sich selbst im Blick haben und nur an ihrer eigenen Freiheit interessiert sind; die der anderen ist ihnen herzlich egal. Und davon, liebe Leute, gibt es eindeutig zu viele!
Dieser ganze Ort hier bildet den totalen Gegenakzent: Hier geht es ums Wir. Um Gemeinschaft. Vitamin G. Eine Haltung der Geschwisterlichkeit. Für einen friedlichen Stadtteil. Und für eine haltbare Demokratie. In der Anstand das Alphabet anführt. Vitamin A eben, um zu Vitamin Z zu kommen: Zusammenhalt.
Der Bauwagen steht nicht umsonst hier in Altona, immer schon ein stolzer Arbeiterstadtteil. Mit vielen armen Menschen, klar, aber auch mit Kämpferherzen und großem Mut. Eine der ersten Aufstände gegen die Nazidiktatur fand hier statt und wurde blutig niedergeschlagen. In dieser Trinitatiskirche gedenkt man regelmäßig dieses Altonaer Blutsonntags 1932 – und dass sich wenig später mit dem Altonaer Bekenntnis sämtliche Pastoren dieser Kirche ideologiekritisch gegen jeglichen politischen Extremismus positionierten. Es klingt in meinen Ohren, als wäre es heute. Aktueller geht es nicht.
Ebenso, wie da unten an der Elbe, wo wir gleich gemeinsam demonstrieren, schon vor über 100 Jahren Arbeiter, mehr als 8.000, für mehr Lohn, bessere Arbeitsbedingungen und vor allem kürzere Arbeitszeiten stritten. „Mehr Lohn, mehr Freizeit, mehr Sicherheit.“ Verrückt, wie aktuell auch das diesjährige Motto des DGB schon immer war.
Ihr müsst euch vorstellen: Tausende Arbeiter legen den Hafenbetrieb lahm, die Schiffe stauen sich in der Elbe. Kaffeesäcke, Kautschuk, Kupfer – die wichtigen Rohstoffe, auf denen der Wohlstand der Stadt aufbaut, stapeln sich auf Schuten und in Schuppen. Die Arbeiter bringen die Gewerkschaften hinter sich – solidarisch ist man nicht allein – und machen Reedern und Senat mehr als deutlich, wo sie wären, hätten sie diese Arbeiter und ihre Arbeitskraft nicht.
Wir merken das heute auch. Der Wert der Arbeit – er ist besonders dann zu spüren, wenn die Arbeit nicht gemacht wird. Die Streiks der Gegenwart haben uns doch manches Mal hin und hergerissen. Klar brauchen Lokführer im Schichtdienst gute Arbeitsbedingungen. Doch wie kommen die vielen Pendler gut an ihren Arbeitsort, wenn gestreikt wird? Ich glaube, uns allen ist klar geworden, welche Zerreißprobe das ist. Und dass es wichtig ist, beieinander zu bleiben – mit Vitamin V, Verhandlung. Und vielleicht sogar noch mehr: versöhnende Verhandlung ...
Auch dafür steht der Bauwagen hier mitten im Quartier. Nicht nur ein echter Hingucker, sondern vor allem ein starkes Symbol fürs Aufeinanderzugehen. Von Kirche und Bezirk, Kindern und Alten, Mutlosen und Hoffnungsleuten. Auf der Kirchenseite arbeiten Bauleute und Handwerker an fünf neuen Gebäuden, unter deren Dach soziale Arbeit aller Art stattfindet mit einer Kita, einer Tagesaufenthaltsstätte für Obdachlose, einem Pilgercafé, Beratungsstellen. Und daneben dann diese Nachbarschaftsbaustelle. Kirche und Bezirk Altona haben sich zusammengetan, um die Themen der Gesellschaft im Umbruch ins Gespräch zu bringen und auch ganz praktisch anzupacken. Wie wollen wir zusammen leben in einer Zeit, die uns wenig Sicherheit gibt und viel Veränderung zumutet? Was bewegt uns und was wollen wir bewegen?
Und zwar gemeinsam. Vitamin G eben. Das ist der Sinn, dass Menschen sich mit ihren Ideen einbringen können und fühlen: Hier bin ich willkommen. Und für den Kummer meiner Seele gibt’s auch ein offenes Ohr. Danke euch allen, die ihr dies in diesem Nachbarschaftstreff möglich macht!
Solche Orte brauchen wir. Mehr davon. Denn so Vieles verändert sich gerade rasant. Und vielen wird angst und bange dabei.
In Deutschland wird wieder von Kriegstüchtigkeit gesprochen. Die Auswirkungen des Klimawandels werden spürbarer. Durch die Inflation fragen sich immer mehr Menschen, wie ihr Lohn oder ihre Rente bis zum Monatsende reichen soll. Wohnraum ist knapp. Einsamkeit eine unsichtbare Pandemie. Es ist nicht gut, mit diesen Sorgen allein zu bleiben, sagt dieser Ort. Viel besser ist, sie zu teilen und gemeinsam aktiv zu werden.
Denn „Zwei sind besser dran als einer allein!“ heißt es schon in der Bibel. „Denn zu zweit geht die Arbeit leichter von der Hand. Und wenn einer von beiden hinfällt, hilft ihm der andere wieder auf die Beine. Einer allein kann überwältigt werden. Zwei miteinander können dem Angriff standhalten, und die dreifache Schnur reißt nicht so schnell!“
Ziemlich klug, die Bibel. In Gewerkschaftskreisen heißt das große Wort für genau dieses Zusammenstehen: Solidarität. Denn gerade jetzt, in Zeiten von Fachkräftemangel und unbesetzten Stellen und in Zeiten so tiefgreifender Veränderungen auf allen Ebenen können wir uns weder Gleichgültigkeit noch Gegeneinander leisten … Auch kann es nicht reichen, wenn ich mit denen an einem Strang ziehe, die meiner Meinung sind, oder mit mir in einem Boot sitzen. Vielmehr: Wenn Arbeitgeberinnen und Arbeitnehmer aufeinander zugehen, dann können beide nur gewinnen. Mehr Lohn, mehr Freizeit, mehr Sicherheit.
Also mehr Wir, jetzt. Gerade da, wo Menschen sich begegnen und viel Zeit miteinander verbringen. Das ist am Arbeitsplatz so und in der Nachbarschaft. Jede:r kann etwas einbringen, was die anderen, das Quartier oder den Betrieb, bereichern und stärken kann. Ideen, Talente, Erfahrungswissen, aber auch Zuneigung und Liebe, Mitmenschlichkeit und Wärme. Sehr schön heißt es nämlich in dieser Bibelstelle auch: „Wenn zwei beieinanderliegen, wird ihnen warm, wenn aber einer allein ist, wie kann dem dann warm werden?“
Nun also – für die soziale Wärme braucht‘s besonders Vitamin B. Nicht das Vitamin B, das der eine hat und die andere nicht und das den eigenen Vorteil sucht. Nein Vitamin B wie Begegnung. Begegnung, aus der Beziehung wächst, Zuneigung, Zugehörigkeit, alles, was einen innerlich stärken und aufrichten kann. Damit kann man auch mal Konflikte aushalten – und vielleicht sogar lösen. Schließlich steht dem Ganzen ja Vitamin A voran, wie Achtung. Anerkennung. Augenhöhe.
Wir haben das hier heute Morgen erlebt. Von A bis Z, Achtung bis Zusammenhalt. Und O, wie Obst, das viele gemeinsam geschnippelt haben. Für den ultimativen Vitamin-Cocktail der Solidarität, der 1.-Mai-Smoothie! Ein Mix aus geballter Energie, Neugierde, etwas Skepsis, aber auch Humor, Klarheit, Freundschaft – alles drin. Damit wir stark bleiben, gemeinsam! Und auf dass unsere Demokratie gesunde! Er möge uns nun schmecken, der Smoothie. Also Prost. Auf mehr Vitamin B! Und ein solidarisches, versöhnliches Wir. Amen.