Durchs Portal zum Gewölbe: Worte verbinden die Menschen mit ihrer Kirche
19. Juli 2023
Kirchdorf auf der Insel Poel. Unter der Bischofsmütze gibt’s Kaffee und Kuchen. Die Kirchentür steht offen, und in das Innere des Turmraums mit dem kühlen Steinboden linst der Sommer. Bischofsmütze ist der Spitzname des achteckigen Kirchturms, den man schon vom Festland aus rot leuchten sieht. Seit vielen hundert Jahren hält der Turm die Wacht über die Insel nördlich von Wismar.
Wollen Sie auch ehrenamtlich Kirchenführungen anbieten? Hier gibt es alle Informationen zum Programm.
Etwas von dieser Unerschütterlichkeit strahlen auch die Insulaner aus, die an diesem Nachmittag ihre Kirche besser kennenlernen wollen. Unter dem Motto „Eine Dorfkirche erkunden“ erzählt Dr. Maria Pulkenat ehrenamtlich Engagierten etwas über die Architektur und das Innenleben ihrer Kirchdorfer Dorfkirche.
Seit dem letzten Jahr bietet die Rostocker Kirchenpädagogin diese Veranstaltungsreihe an. Sie richtet sich insbesondere an diejenigen, die dafür sorgen, dass auf dem Gebiet der Nordkirche gerade im Sommer Tag für Tag Tausende Touristen und Einheimische, die Einkehr suchen, Kirchen offen finden.
„Das sind ganz engagierte Menschen, die dort mehrere Stunden sitzen“, sagt Maria Pulkenat, „sie alle eint, dass sie sich mit ihrer Kirche sehr verbunden fühlen. Das Gebäude spricht zu ihnen und sie sind in Resonanz mit den Kunstschätzen“.
Die Kirche steht täglich offen
In Kirchdorf auf Poel ist es ein Kreis von 14 Ehrenamtlichen, die sich nach der Pandemie gefunden haben. Sie erkunden heute Nachmittag mit weiter gereisten Interessierten aus Lübeck und Wismar ihre Kirche.
„Wir haben hier täglich zwischen 50 und 100 Besucher“, erzählt Hubertus Gustav Doberschütz. Im Sommer könnten es auch mal 150 sein. Für die steht die Kirche täglich offen. Der 73-Jährige sagt: „Wer etwas wissen will, für den stehen wir zur Verfügung. Wir lassen jeden erstmal hier reinkommen und sich erkundigen. Aufdrängen ist Quatsch. Wenn sie eine Frage haben, beantworten wir sie. Manchmal auch nicht, wir sind alle Laien.“
Kirchenhüten ist eine anspruchsvolle Aufgabe
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Nach Meinung von Maria Pulkenat haben diese Ehrenamtlichen eine äußerst anspruchsvolle Aufgabe: „Wenn Besucher reinkommen, müssen sie in Sekundenschnelle deren Bedürfnisse erfassen: Wollen diejenigen in Ruhe gelassen werden, brauchen sie kunstgeschichtliche Informationen, wollen sie sich mit jemandem über das Leben in der Kirchengemeinde unterhalten oder – das kommt nicht selten vor – sind sie gerade in Trauer oder in einer Krise und brauchen ein offenes Ohr.
Es gibt zauberhafte Begegnungen, aber es gibt auch solche, wo Menschen einfach nur ihren Frust über die Kirche loswerden wollen.
Sachwissen und Anekdoten
Mit einem Rundgang um die Kirche beginnt die Kirchenpädagogin die Erkundung. Sie stellt sich mit weit ausgebreiteten Armen in das gerundete Kirchenportal.
Sie erzählt, wie aus Lehm der Backstein, der den Kirchen im Norden ihr charakteristisches Aussehen gibt, entsteht. Solche Informationen verbindet sie gerne mit einer weiteren Dimension: „Jede Kirche ist nach Osten ausgerichtet. Jede Kirche hat ihren kosmischen Bezug.“
Doch nicht nur die Kirchenpädagogin informiert, auch die Poeler kennen zahlreiche Anekdoten zu ihrer Dorfkirche: „Da war die Durchreiche für die Typhuskranken“, erläutert eine Teilnehmerin und deutet auf eine inzwischen zugemauerte Einkerbung, „damit die Familien ihren kranken Angehörigen etwas zu Essen bringen konnten. Die waren hier alle in der Kirche untergebracht“.
Seit Generationen haben Menschen in dieser Kirche gebetet
Eine unscheinbare Holzür an der Südseite führt vom strahlenden Grün vor der Kirche in das gedämpfte Innere. Vor der steinernen Schwelle bleibt Maria Pulkenat stehen. Sie erinnert an all die Menschen, die über die Jahrhunderte schon diese Schwelle überschritten haben: „Seit Generationen haben Menschen diese Kirche aufgesucht, haben darin gebetet, um Trost zu erhalten, Zuflucht zu suchen oder ihrer Freude Ausdruck zu verleihen.
Nicht nur vor dem vollendeten Gewölbe können wir Hochachtung empfinden, sondern auch davor, was in diesem Raum schon alles geschehen ist.
Hubertus Gustav Dobschütz nickt. Die Kirche ist für ihn ihm auch deshalb so wichtig, weil sie ihn erinnert an all die Stationen, die er und seine Familie gegangen sind.
Gesucht: Triumphkreuz, Joch und Kämpfer
Vor den Kirchenbänken verteilt Maria Pulkenat Zettel mit Begriffen wie „Triumphkreuz“, „Joch“ und „Kämpfer“, und die Teilnehmerinnen und Teilnehmer suchen den entsprechenden Gegenstand. Der Kämpfer ist schnell gefunden. „Eine unscheinbare Steinplatte, aber da passieren entscheidende Dinge. Da entsteht nämlich der Bogen“, erläutert die Kirchenpädagogin und deutet nach oben, „hier mit diesen verzierten Stuckbändern markiert.“
Der Blick bleibt nach oben gerichtet: „Wer hat das Joch? Und wo finden wir es hier?“ „Das Gewölbefeld, glaube ich…“, sagt Martina Jokuscheit, Gewölbeführerin aus Wismar. Maria Pulkenat freut sich über die treffende Antwort. „Von hier“, sie schreitet ein paar Bodenplatten ab, „bis hier. Das ist ein Gewölbeabschnitt, ein Joch.“
Anngret Ohlendorf gehört zum Kreis der Poeler, die ihre Kirche offenhalten. Sie schätzt es, dass ihre Kirche bei dieser Erkundung so zum Leben erwacht: „Es gibt ja so einige Bücher, in denen ganz viel steht über die Kirche mit Baujahr und wieviel Pastoren es hier schon gab. Aber so eine anschauliche Führung ist doch etwas anderes. Ich würde gerne noch eine richtige Kirchenführerausbildung machen.“
Lernort Kirchenraum
Von der aufgespannten Gewölbedecke geht der Blick nach unten. Maria Pulkenat legt ein Papier mit dem Grundriss der Kirche auf eine der mit rotem Sisal bespannten Altarstufen. Interessiert steht die Gruppe darum. Die Blicke wandern von der abstrakten architektonischen Skizze zum lebendigen Kirchenraum.
„Was gehört zu einem Kirchenraum?“, fragt Maria Pulkenat. Die Stimmen gehen durcheinander: „Der Altar!“, ruft jemand. „Die Kanzel!“, eine andere, „und das Gestühl“.
„Kann sein, muss nicht sein. Was muss noch sein?“
„Ein Taufbecken?“, fragt jemand. „Taufbecken, Altar, Kanzel“, fasst Maria Pulkenat zusammen. „Und der Pastor“, ergänzt eine Teilnehmerin. Die anderen lachen. „Das ist doch kein Möbelstück.“
Maria Pulkenat bringt die Menschen in Beziehung zur Kirche: durch kleine Aufgaben wie die, sich an ihren Lieblingsplatz in der Kirche zu stellen. Gustav Hubertus Dobschütz zieht es magnetisch zum Zeesboot. Die Wismarerin Martina Jokuscheit steht strahlend vor dem Seitenaltar mit der bekrönten Maria. Edith Köpnick gesellt sich zu ihr.
Biblische Figuren vermitteln Kirchengeschichte
Eine Detektivarbeit erwartet die Teilnehmer vor dem Hauptaltar: Zu jeder der detailverliebt geschnitzten biblischen Figuren und Heiligen hat Maria Pulkenat Zettelchen mit den charakteristischen Attributen verteilt. „Der blühende Rosenzweig“ auf einem führt zu Dorothea, über das „Salbengefäß“ lässt sich Maria Magdalena identifizieren, am „Lamm“ ist die heilige Agnes zu erkennen.
Durch den seitlichen Eingang ist eine kleine Reisegruppe in die Kirche gekommen. Sie setzen sich in die Kirchenbänke und hören aufmerksam zu, sichtlich erfreut darüber, unerwartet eine Kirchenführung mitzubekommen.
Wie nebenbei vermittelt Maria Pulkenat über das Inventar der Kirche Wissen über die die Reformation. Sie deutet auf eine Stelle vor dem Altarraum: „Hier war eine Schranke. Die hat den Unterschied zwischen der Gemeinde und dem Priester markiert. Nur die geweihten Priester durften da hoch. Deshalb hieß die Außentür zum Altarraum auch Priesterpforte.“ Sie geht einen Schritt weiter und deutet auf den Gewölbebogen: „Hier hing das Triumphkreuz mit dem gekreuzigten Christus, daneben standen Johannes und Maria“, sie beschreibt mit ihren Armen einen Bogen, „so müssen wir uns das vorstellen.
In der Reformation fällt die Priesterschranke
Dann kam die Reformation, und als erstes ist diese Schranke gefallen. Wenn es ein Priestertum aller Glaubenden gibt, kann es keine Extra-Bereiche geben. Die Nebenaltäre, hat man gesagt, lenken nur ab. Also abräumen.“ Sie deutet auf den Altar mit der gekrönten Madonna im Strahlenkranz und erläutert weiter: „Stimmt nicht ganz, einen haben sie noch gehalten.
Die Mecklenburger waren zum Glück nicht so wild aufs Aufräumen. Er war doch so schön, haben sie sich gedacht, und hat doch so viel Geld gekostet, da lassen wir das mal lieber.“ Die Teilnehmer lachen.
Die Mecklenburger waren zum Glück nicht so wild aufs Aufräumen.
Obwohl ein großer Respekt zu spüren ist gegenüber dem Raum und den Gebeten, mit denen Menschen hier ihr Leben in Gottes Hand gelegt haben, ist die Stimmung heiter.
Es ginge ihr vor allem darum, die Leute, die sich hier engagieren, zu stärken und zu ermutigen, so Maria Pulkenat: „Ich bin zufrieden, wenn die Menschen hinterher noch ein Stück stolzer sind auf ihre Kirche und das, was sie fühlen, noch mehr in Worte fassen können, weil sie mehr Hintergrundwissen haben. Meistens gibt es ja ein Papier oder einen kleinen Kirchenführer. Aber das ist viel wertvoller in den Worten von Menschen, die mit ihrer Kirche verbunden sind.“