24. August 2014 | Dom zu Schwerin

Das Geheimnis der Erlösung ist Erinnerung

24. August 2014 von Gerhard Ulrich

10. Sonntag nach Trinitatis, Predigt zum "Israel-Sonntag"

Liebe Gemeinde!

I

„Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden. Dann wird unser Mund voll Lachens und unsere Zunge voll Rühmens sein. Dann wird man sagen unter den Heiden: Der Herr hat Großes an ihnen getan!“

So singen es voller Hoffnung diejenigen des Volkes Israel, die im Exil leben, verschleppt von ihrer Heimat, vertrieben von dem Ort, da Gott wohnt. Und sie singen dennoch: wissend, glaubend, erinnernd, dass Gott sie nicht überlässt den Tränen, dem Leid, den Feinden. „Ihr habt gesehen, was ich an den Ägyptern getan habe, wie ich euch getragen auf Adlers Flügeln und euch zu mir gebracht habe“. 

Das ist das Zentrum des Volkes Gottes, das Gott sich erwählt aus den Juden und aus allen Völkern der Erde: die Erinnerung an den Gott, der es aus der Sklaverei befreit und durch die Wüste zum Gelobten Land geführt hatte. Bis heute ist das das geistliche Zentrum der jüdischen Brüder und Schwestern, aus dem sie Kraft schöpfen an vielen Orten der Welt, angesichts von Vertreibung und Vernichtung, die zu immer noch vielen Familien gehört! Und in dem wir auch verbunden sind mit diesem Volk, das in unserer Geschichte bitter  hat leiden müssen.

Und sie wissen: das Geheimnis der Erlösung ist Erinnerung – nicht Verdrängung. Erinnern die Großtaten Gottes, des Schöpfers; erinnern aber auch das Leid und die Schmach und das Zittern und Zagen. Aus dieser Spannung wachsen Glauben und Zuversicht. In dieser Spannung lebt die Zugehörigkeit zu Gott.

II

Der heutige Sonntag heißt „Israel-Sonntag“. An ihm vergewissern wir uns der bleibenden Treue Gottes mit Seinem auserwählen Volk – den Juden zuerst und dann auch aus allen anderen Völkern: „Das Heil kommt von den Juden“ so lautet ein zentraler Satz aus dem Neuen Testament, im Evangelium nach Johannes. „Das Heil kommt von den Juden“ – und es gab die Zeit in unserem Land, als Kinder aufgefordert wurden, diesen Satz aus ihrer Bibel zu streichen. Die Wahrheit der Bibel war den nationalsozialistischen Machthabern zu gefährlich – daher wurde von ihnen eine ganz andere Wahrheit verordnet, die die Köpfe und Herzen der Menschen nach und nach wie ein Krebsgeschwür zerfraß: Heil wurde einem anderen zugerufen, dem Führer, der ins Elend führte, die ganze Welt an den Abgrund. Und wir haben es erlebt – die Folgen dieser ideologischen Verdrehung und Verblendung waren fürchterlich: Das scheußlichste Verbrechen der Menschheitsgeschichte, die Vernichtung des europäischen Judentums, und die verheerendsten Kriegsgräuel seit Menschengedenken im Zweiten Weltkrieg.

Und dann gibt es in den letzten Wochen wieder diesen furchtbaren Krieg zwischen dem Staat Israel und den Palästinensern, insbesondere mit dem radikalen Flügel. Und viele tun sich schwer mit diesem Themen-Sonntag angesichts der Bomben, die auf unschuldige Zivilisten fallen, Schulen zerstören und Krankenhäuser. Angesichts der Brutalität des Prinzips „Auge um Auge – Zahn um Zahn“.

Der Name „Israel“ ist mit dem Schrecken und Elend dieses Nahostkrieges belastet.

Aber um dieses Israel geht es nicht! Das biblische „Israel“ ist nicht einfach ein Eigenname, schon gar nicht der eines modernen Staates. Es ist vielmehr ein Gottesname, sozusagen eine Gotteslegierung. Denn der Name besteht aus zwei Elementen: „Isra“ – ein Wort, das die Bedeutung „Streiter“ enthält, und „El“, was übersetzt „Gott“ heißt. Israel ist ein theologischer Name, ein Verheißungsname, ein Name, der von keinem Einzelnen oder gar von einem Staat desselben Namens einfach gedeckt wird.

Darum können wir es nicht hinnehmen, wenn ein moderner Staat sich auf diesen Gott und seine Verheißungen beruft, wenn Krieg geführt wird. Es gibt keinen Heiligen Krieg! Und es ist auch nicht hinnehmbar, wenn im Blick auf den Krieg in Israel-Palästina hier im Land längst überwunden geglaubter Juden-Hass wieder aufflammt!

Liebe Schwestern und Brüder, ich bin sehr dankbar und froh, dass unsere Nordkirche sich ihrer theologischen und historischen Verantwortung stellt und in ihrer Kirchenverfassung bekennt: „Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland bezeugt die bleibende Treue Gottes zu seinem Volk Israel. Sie bleibt im Hören auf Gottes Weisung und in der Hoffnung auf die Vollendung der Gottesherrschaft mit ihm verbunden“.

Juden und Christen gemeinsam stellen sich in die biblische Tradition und bezeugen vor der Welt den einen Gott als Quelle des Lebens und als Licht der Welt.  

III

Einer der Texte des heutigen Israel-Sonntags aus dem 2. Buch Mose, Kapitel 19 verweist uns eindringlich auf das Bild des wandernden Gottesvolkes, das wie auf „Adelers Fittichen“ getragen wird von Gott, der treu ist und barmherzig.

Denn Gott lässt seinen Diener Mose die folgenden Worte ausrichten an das Haus Jakob und alle Israeliten:

„Ihr habt gesehen, was ich mit den Ägyptern getan habe und wie ich euch getragen habe auf Adlerflügeln und euch zu mir gebracht.

Werdet ihr nun meiner Stimme gehorchen und meinen Bund halten, so sollt ihr mein Eigentum sein vor allen Völkern; denn die ganze Erde ist mein.

Und ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heilige Volk sein.“

Welch eine wunderbare Verheißung an ein Volk, das unterwegs ist, das aufgebrochen ist – nur auf sein Wort hin. Mit dem Wort in Gebot und Verheißung bindet sich Gott an seine Menschen und sie an sich. Sein Wort: Adlers Flügel, Schutz und Schirm, Kraft und Orientierung. Immer wieder bringt die Weisheit des Volkes, die Weisheit des Glaubens-Wissens dieses zum Ausdruck, zum Klingen: „Wohl den Menschen, die ihn (Gott) für ihre Stärke halten…Sie gehen von einer Kraft zur anderen…“

 Welch eine wunderbare Verheißung: was auch geschieht, ich bin mit dir, ich lasse dich nicht. Welch ein Wort des Zuspruchs, welch ein göttliches Versprechen auch zur Taufe eines Kindes! Welch eine wunderbare Zusage für jedes beginnende Leben, für alles Verantworten von Eltern und Paten: der Glaube – eine Kraft, die nicht zu Ende geht. Wo uns oft genug die Luft wegbleibt: Gott hat Atem. Wo es uns die Sprache verschlägt: Gottes Wort bleibt lebendig

Und das alles ist nicht uralt und weit weit; das sind Erfahrungen, die sich weitergetragen haben über Jahrhunderte und Jahrtausende. Sind Zusagen und Verheißungen, die Jesus, den Juden, selber getragen und gehalten haben. Die er weitergegeben hat den Seinen. Die eine Quelle guter Lebenskraft. Aus ihr dürfen wir schöpfen – Klein und Groß, Jung oder Alt.

Das Volk Israel hat die Flucht aus der Sklaverei in Ägypten einigermaßen heil überstanden. Gott war in der Wolkensäule am Tage und in der Feuersäule des Nachts  als Schutz und Schirm dabei. Allerdings war das alles nach dem Zeugnis der Heiligen Schrift kein Sonntagsspaziergang, sondern vielmehr ein gefahrenreicher Zug durch die Wüste – durch die Wüste als Ort der Gefahr von außen ebenso real erlitten wie als Zug durch die Wüste als Ort der Gefahr von innen: Die Bibel erzählt eben nicht nur eine Geschichte von strahlenden Siegern und von starken Glaubenshelden, sondern sie erzählt realistisch und lebensnah auch von zweifelnden, murrenden, sich gegen Gott auflehnenden Zeitgenossen. Dennoch und trotz allem: Gott hält treu zu seinem auserwählten Volk – und er will gerade mit diesem geplagten und fußkranken Volk seinen Bund für das Leben schließen und halten immer und ewiglich. Unter dem Bogen des Segens Gottes sind die Israeliten unterwegs – und durch sie soll dann auch das Gottesvolk aus allen Völkern sich sammeln und mitziehen.

IV

Eigentum verpflichtet – dieser Satz gilt auch in der Beziehung zwischen Gott und seinem auserwählten Volk. Allerdings hier so, dass nicht nur der Besitzer in die Pflicht genommen wird, sondern auch der Besitz: Gott gehören heißt hier für Israel – zu Gott gehören. Und das soll dieses auserwählte und ausgezeichnete Volk Gottes dann auch wirklich sein wollen. Erwählung und Auftrag gehören untrennbar zusammen. Gott erwählt, um zu beauftragen und Zeugen zu sammeln aus allen Völkern für seinen Plan von einem guten Leben für alle Menschen auf Seiner Erde. „Ihr sollt mir ein Königreich und ein heiliges Volk sein“ – das ist eine Ermutigung zum Mittun am Plan Gottes mit der ganzen Erde. Und das ist ein Gebot gegen jede Form des Fundamentalismus. Denn es ist nicht Gott, der uns gehört. Sondern es sind die Geschöpfe, die sein, Gottes Eigentum bleiben.

Und das hören wir mit Blick auf die dramatische Situation im Nahen Osten ja durchaus auch ambivalent: angesichts des Terrors und Gegenterrors, der Raketen und Vergeltung klingt diese Verheißung schillernd. Um welchen Preis? Menschen sterben, unschuldige Menschen verlieren ihr Leben im Heiligen Land im Streit um Besitzstände, um Lebensrecht. Israel mauert sich ein gegen seine Feinde, schneidet anderen, Palästinensern, Lebensadern ab. Angst und Misstrauen regieren dort, die radikalen Friedenshasser gewinnen an Einfluss. Versuche, die Region zu befrieden, scheitern wieder und wieder. Neuer Terror gegen Israel, neue Bedrohungen auch für die Palästinenser; eine neue Gefahr durch Syrien, im Norden des Irak ... Das geht uns an hier in Deutschland – die Existenz eines freien und demokratischen Staates Israel gilt es zu sichern – und zugleich die  Kräfte des Ausgleichs zu stärken, die arbeiten für eine friedliche Koexistenz zweier Staaten: Palästina und Israel. Ja: der Staat Israel heutiger Prägung und das erwählte Volk: sie sind selbstverständlich nicht identisch. Auch der Staat Israel ist zu erinnern an die Ur- und Grunderfahrung des wandernden Volkes: „Es soll nicht geschehen durch Heer und Kraft, sondern durch meinen Geist, spricht der Herr“ – so heißt es beim Propheten Sacharja sehr klar und eindeutig. Der Gott, dem wir gemeinsam zugehören, ist ein eifernder Gott – er ist als solcher ein Gott des Friedens, des Schalom!

Das Prinzip des „Auge um Auge – Zahn um Zahn“ führt in immer neue Gewalt, nicht zum Frieden. Aber um den Feind zu lieben, wie auch die hebräische Bibel es verlangt und wie es auch der Islam bekennt, braucht es Vertrauen, Zutrauen und Mut. Braucht es Menschen, die anfangen, aufzuhören mit der Gewalt. Braucht es Menschen wie jene in der Region, die etwa auf dem Ölberg mitten in Ost-Jerusalem zum Dialog der Religionen rufen und so den Frieden suchen. So sind auch wir Christen gerufen, unsere gemeinsamen Wurzeln immer neu zu erinnern, die ihre Kraft ziehen aus dem Wort des einen Gottes, des Vaters Jesu Christi!

Beim Hören auf Gottes Stimme wird das Gottesvolk immer wieder neu Weisung erfahren für den Weg, der zu gehen ist in unserer Gegenwart und Zukunft. Für den Weg des Friedens und der Gerechtigkeit. Darum, liebe Schwestern und Brüder, verweist der Evangeliumstext aus dem Markusevangelium auf das Doppelgebot der Liebe. Gottesliebe und Nächstenliebe, untrennbar miteinander verbunden, sind das Zentrum der Ethik im Alten wie im Neuen Testament. Diese Weisung hat Jesus in keiner Weise aufgehoben, sondern mit all´ seinen Worten und Taten eindrücklich bekräftigt. Eigentum verpflichtet – ja, dass wir Gottes Eigentum sind und bleiben sollen, verpflichtet uns auf das Doppelgebot der Liebe. Die, die da unterwegs sind und seinen Namen nennen und tragen, sind gerufen, sein Wort weiterzugeben, die Erinnerung lebendig zu halten an Gebot und Verheißung, an Zuspruch und Anspruch. Ob wir als Gottesvolk erkennbar sind, hängt davon ab, ob wir den Mut haben, allem zu widersprechen und zu widerstehen, was dem Leben der Menschen, der ganzen Schöpfung im Wege steht, was lebensfeindlich ist, was das Klima, das Gott uns gegeben hat und in das er uns stellt, so radikal verändert, dass Menschen nur noch die Flucht bleibt; ob wir den Mut haben, zu widerstehen dem Bösen; ob wir die Freiheit spüren, zu teilen, was wir zum Leben haben; ob wir die Demut aufbringen, die Grenzen nicht nur für Waffen, sondern vor allem für Menschen zu öffnen, die vor den Waffen fliehen! Wer Frieden gefunden hat bei Gott, der gerät in den Unfrieden mit der Welt, hat der Theologe Jürgen Moltmann einmal formuliert: wer Gott für seine Stärke hält, ist frei von anderen Mächten und gibt sich nicht zufrieden mit dem, was immer schon so war und ist.

Liebe Schwestern und Brüder, wir sollen damit rechnen, dass Gott sich zu erkennen gibt – in seinem Wort, im Sakrament von Taufe und Abendmahl – und auch in denen, die als seine geringsten Schwestern und Brüder am Wegesrand liegen. Gott lieben und den Nächsten – das ist der Dienst an und für Gott, den er von seinem Volk erwartet. Wir sollen Gottes Zeugen sein – Zeugen für seinen Frieden und für seine Gerechtigkeit. Wir sind unterwegs in der Gewissheit seiner Verheißung: „Ich werde euch tragen auf Adlers Flügeln…“

Amen.

Datum
24.08.2014
Quelle
Stabsstelle Presse und Kommunikation
Von
Gerhard Ulrich
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