Impulsvortrag: Weltverwundung, Verheißungen und das Vaterunser - Was ist der Sinn dahinter?
21. September 2023
AEU Kuratorium Kaminabend
Vielen Dank für Ihre Einladung, die ich ausgesprochen gern angenommen habe! Mit klugen Menschen über die tiefen Dimensionen unserer Welt- und Gottesbeziehung nachzudenken, ist ein Geschenk in diesen Zeiten der schnellen Schlüsse – und Schüsse.
Dezidiert ein theologisches Thema möge es heute sein, also – so habe ich es übersetzt – inmitten eines so schönen Menüs möchten Sie Schwarzbrot des christlichen Glaubens zu sich nehmen. Kernig. Dabei schadet es nicht, wenn es verständlich bleibt. Gehaltvoll eben, aber nicht abgehoben. Vollkornbrot des Lebens, das Geist und Seele nährt. Und dies alles möglichst im Kontext der Sinnfrage. Oder sollte ich nicht angesichts einer metaphysischen Obdachlosigkeit, die mit zunehmendem Traditionsabbruch festzustellen ist, angemessener von Sinn-Zweifeln reden? Allemal, wenn wir uns gewahr werden, was wir derzeit an Weltverwundung erleben?
Weltverwundung – sie hat unzählige Gesichter. Vom Leiden gezeichnet ist die Schöpfung im Meer, an Land, in der Luft. Vom Leiden gezeichnet auch der Mensch an so vielen Orten der Welt. Die vier apokalpytischen Reiter – die Krankheit und Seuche, der Krieg, der Hunger und der Tod – reiten durch die Zeit und bringen den Menschen an die Grenzen des Verstehens. Was, um Gottes Willen, ist der Sinn dahinter?
Warum diese furchtbaren Kriege von bis aufs Blut verfeindeten Völkern, die einst Brüder waren? Diese Machtspiele von dummen Potentaten, die Tausende das Leben kosten? So viel sinnloser Tod. Wo ist da Gott mit seinen Verheißungen? Was ist mit dem Land, in dem Milch und Honig fließen sollen? Worauf kann der Menschen eigentlich noch vertrauen, wo doch gerade alle Gewissheiten wanken?
Was also hält in diesen Zeiten? Vor genau einer Woche war ich als EKD-Ratsmitglied und vor allem als Vorsitzende der evangelischen Militärseelsorge in Düsseldorf bei einer außergewöhnlichen Olympiade, den Invictus-Games. Aus 15 Nationen sind Sportlerinnen und Sportler zusammengekommen, Prinz Harry und Herzogin Meghan mittenmang, und haben restlos alle mit ihrer Begeisterung von den Stühlen, respektive Rollstühlen gerissen. Invictus bedeutet „unbesiegt“ und steht für den Kampf- wie Friedensgeist der Teilnehmenden: Soldaten und Soldatinnen nämlich, die in Kriegseinsätzen wie etwa Afghanistan an Leib und Seele versehrt wurden. Und die sich ins Leben zurückgekämpft haben. Schwer verletzte Menschen, die in Kriegen, über die sie nicht entschieden haben, fast ihr Leben ließen und an ihren Wunden bis heute tragen.
So etwa Steven, der beim Minenräumen beide Hände und Füße verlor. Aber Tischtennis spielt wie ein Weltmeister. Oder Jonas, der seit Jahren schon seelisch erstarrt ist durch posttraumatische Belastung. Aber er will bei diesen Spielen unbedingt helfen. Bewegend zu sehen, wie er stundenlang, ganz in sich versunken, Namenslisten abhakt. Auch beim Rollstuhl-Rugby bleibt kein Auge trocken und kein Rollstuhl auf seinen vier Rädern, weil man krachend ineinander fährt. Man schenkt sich schließlich nichts als Unbesiegbare! Gleichzeitig liegen sich die Gegner beim Sitzvolleyball in den Armen, weil sie alle Freunde sind.
Invictus ist eine große Familie – mit samt ihrer Familien. Unbesiegbar ist die Liebe. Und die Lebensfreude. Und so werden die ersten bejubelt wie die letzten. Es regnet Applaus und Stolz und Liebe auf die Spieler herab, und damit die Botschaft: So wie du bist, bist du unendlich wertvoll. „Hier ist es ok, nicht ok zu sein“, sagt einer.
Jeder einzelne Mensch dort hat eine tief tragische Geschichte, aber ehrlich, ich habe nur lachende Gesichter gesehen. So dermaßen schöne Momente waren es, dass einem dauernd die Tränen kamen. Minütlich Sternstunden der Mitmenschlichkeit. Als etwa einer der Spieler spontan den höchstrangigen, formstrengen General so fest umarmt, dass der „locker macht“. Rührend.
Etwas so hochemotionales, schmerzlich Lebensbejahendes, trotzig-stark-hingebungsvoll Zärtliches habe ich schon lange nicht erlebt. Dass verletztes Leben einen so tiefen Sinn behalten kann, dass die Ängste und Traurigkeit eines Traumas nicht die Lebensfreude zu besiegen vermögen, und dass die Menschen sich nicht bitter und voller Zukunftssorgen zurückziehen, wozu sie allen Grund hätten, sondern dem Verheißungsvollen vertrauen, das sich ihnen in dieser Gemeinschaft eröffnen will – das war schon ein bisschen Himmel auf Erden.
Nicht von allen natürlich, aber von einigen weiß ich, dass sie ihre tiefen Verletzungen seelisch nicht verkraftet hätten, hätten sie nicht innere Koordinaten gehabt, die immer noch das Gute orten konnten – so dass es das Böse überwindet. Religiös beheimatet, vielleicht nicht mehr in der Kirche, aber von einer Hoffnung getragen, die Hand und Fuß hat. Und die gerade nicht zuletzt stirbt, sondern bleibt, weil sie über das hinaushofft, was real existiert. Wenn man so will eine Verheißung, ein Traum vom Besseren, der gerade nicht vom Schmerz absieht – um Gottes Willen, das ja gerade nicht! –, sondern der die Kraft gibt, Angst, Krise und Schmerz zu bewältigen.
Und ich bin überzeugt: Diese Verheißungen tragen nicht, weil sie in schöne Worte gekleidet sind, sondern vor allem deshalb, weil es Menschen gibt, die sie glaubwürdig glauben. Menschen sind es, die Vertrauen ausstrahlen und Wahrhaftigkeit, die eine Brücke schlagen zwischen dem weisen Wort und der gelebten Sinnhaftigkeit. Denn Sinn macht sich ja nicht einfach so, sondern Sinn entsteht. Auch und gerade in Beziehungen.
Ich bin überzeugt, bei Invictus oder all den Weltverwundungen: Wo es Menschen gibt, die etwas von der tiefen Untröstlichkeit und Sinnkrise und zugleich von der gottgegebenen grundsätzlichen Bedeutsamkeit eines jeden Menschen verstehen, die sich einsetzen, andere halten, segnen und für sie beten, wo es Menschen gibt wie auch Sie hier, entsteht eine Ahnung vom Heilsein und von Zuversicht.
Das Problem: Mit Abbruch der Traditionen fehlt immer mehr Menschen der Kontakt zu solchen Gebeten, Bildern, Verheißungen, die Kraft geben und Inspiration. Etwas, das über einen selbst hinausweist und einem Halt gibt, weil es gerade nicht aus einem selbst herauskommt. Diese so entstandene und vorhin erwähnte metaphysische Obdachlosigkeit richtet in der westlichen Welt und im postmodernen Menschen viel an: Sie entledigt ihn seiner Religion. Das Haus der Tradition beheimatet nicht mehr oder ist allenfalls eine zugige Baustelle.
Es redet kaum noch jemand von dem, was er glaubt, was ihn leitet, was ihm Halt gibt. Es wird geredet von Glück, das man selbst schmiedet, nicht von Gnade. Davon, dass ich an dich denke, anstatt dass ich für dich bete. So ist mancherorts Gott selbst verloren gegangen. Tatsächlich nicht nur unbekannt verzogen, sondern auch noch unbemerkt. Ohne Glauben, ohne Gott, ohne zehn Gebote und tragende Gebete ist der moderne Mensch fast alles losgeworden, nur nicht seine Verlorenheit.
Allerdings zu meinen, damit gäbe es keine Sehnsucht nach dem, wofür Religion, auch und gerade christliche Religion steht, wäre ein Fehler. Im Gegenteil. Wir sehen das an den Tauffesten in ganz Deutschland – bedenken Sie allein das Tauffest an der Elbe 2019. Innerhalb weniger Wochen waren 500 Täuflinge angemeldet, am Ende war‘s ein riesiges Christenfest mit 5.000 Menschen.
Und was sich in den Gesprächen mit den Menschen, auch jüngst bei der Nacht der Kirchen zeigt: So sehr die Gewissheiten brechen, desto größer ist die Sehnsucht nach Segen und Schutz, nach Gemeinschaft, Trost und Zuversicht. Nach Anerkennung auch und Achtung der manchmal ja recht eigenen Lebensform. Danach, Gutes und Sinnstiftendes für andere zu tun. Der Mensch sucht – derzeit mehr denn je – nach Sinn, Halt, Klarheit, die das Ganze einer überkomplexen Wirklichkeit in sich aufnimmt. Sie suchen es nicht mehr in den Kirchen. Und daran haben die Kirchen Anteil. Zugleich, so stellen es Religionssoziologen dar, scheint es nirgends einen Ort dafür zu geben. Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur folgen jeweils ihrer eigenen inhärenten Logik und funktionieren für und in sich. Für ein umfassendes Sinnsystem jedoch, oder gar eine ganzheitliche religiöse Sinndeutung, gibt es kein Format. Allemal, wenn Krisen einen schütteln.
Als vor zwei Wochen in Hamburg bei einem tragischen Unfall ein 15-jähriger Fahrradfahrer unter einen abbiegenden Laster geriet und noch an der Unfallstelle starb, war der ganze Stadtteil tief erschüttert. Tags darauf versammelten sich Hunderte an diesem Ort, zur Mahnung und zum Gedenken. Einer der Angehörigen sagte: Ich bin nicht religiös und auch nicht in der Kirche, aber ich weiß, dass es die Eltern des Jungen sind und dass der Glaube ihnen Kraft gibt. Deshalb bitte ich euch, beten wir das Vaterunser. Und sie taten es.
Dieses so alte Gebet hat die Menschen in dieser schrecklichen Situation tatsächlich getragen. Weil es so tröstlich vertraut war, auch den nicht mehr religiösen, und weil viele es nicht nur auswendig können, sondern es sich irgendwie inwendig verankert hat und abrufbar, präsent ist. Es spricht sich gewissermaßen wie von selbst. Der Rhythmus trägt, auch wenn man es unkonzentriert, krisengeschüttelt oder aufgeregt spricht. Das merke ich auch ganz persönlich, Sie ja vielleicht auch: Wenn ich das Vaterunser einmal nicht beten kann, dann betet das Vaterunser mich. Gerade dann, wenn einem die Worte fehlen.
Ich bin überzeugt, dass dort in Osdorf beides wichtig war: Menschen, die in dieser Trauer als Gemeinschaft Halt gegeben haben, und das Vaterunser als alle Verschiedenen tragendes Ritual. Und das ist kein Zufall, meine ich. Gestatten Sie mir, dies noch mit ein paar Gedanken auszuführen. Dieses konzise Gebet mit seinen nur 56 Wörtern umfasst alles, was den Menschen existentiell berührt, also nicht nur, was kognitiv nahe ist.
Vater im Himmel – es zeigt das grundsätzliche Angewiesensein des Menschen auf Gnade und Segen, aber auch auf andere Menschen, den Nächsten, von der Geburt bis zum Sterben. Der Name des Menschen als Gottes Ebenbild betont nicht nur die Einmaligkeit, sondern ist sogar geheiligt, heißt: Unantastbar ist die Würde jedes einzelnen Menschen. Die Verletzungen ebenso wie Schuld sind in diesem Gebet aufgehoben, die aufrichtige Bitte um Versöhnung, Brot und Frieden, um gnädigen Tod und Erlösung, nicht im Himmel, sondern auch auf Erden, nicht nur jetzt, sondern in Ewigkeit.
All dies gebunden in 56 Wörtern. Sie sind wie ein Schutzraum, den man immer dabeihaben kann. Ein Zufluchtsort, der immer da ist, verfügbar, mitten im Alltag, ein Raum mit direkter Verbindung zu Gott. Ein jüdisches Gebet, das christlich geworden und das zu dem öffentlichen Gebet schlechthin geworden ist. Als Bildungsgut, als inneres Zuhause, als Ritual, als Notruf.
Nicht umsonst liegt in diesem Gebet das christologische Kernstück des Glaubens, hat Jesus diese Worte einst nach der Bergpredigt erwiesenermaßen selbst gesprochen. Und so ist es nicht allein die Bitte, sondern auch Bekenntnis, indem der Mensch sich gen Himmel richtet, Gottes Sphäre.
Demut liegt darin. Kann doch der Mensch eben nicht bis ins Letzte verstehen, was mit ihm oder der Welt geschieht. Bei aller intellektuellen und wissenschaftlichen Durchdringung, derer der Mensch fähig ist, ja selbst mit Künstlicher Intelligenz erschließt sich ihm im Letzten nicht, wie Leben wird und wie es vergeht.
Die ersten und die letzten Fragen verweisen an eine höhere Instanz, die sich nicht allein im Immanenten des alltäglichen Lebens ergründen lässt. Die nüchterne Erklärung etwa durch Photosynthese greift zu kurz und das merken wir genau. Nein, die Sinnfragen oder Sinnkrisen bringen einen immer hinein in einen transzendenten Raum, der sich jenseits der Grenze des kognitiven Verstehens und der Vernunft öffnet, weit öffnet. Denn an der Grenze erst beginnt die Erkenntnis – und das Vertrauen, dass ein Sinn dahinter ist.
Und damit bin ich bei meinem Schlussgedanken. Das Vaterunser als theologisch konzentrierteste Sinnlogik baut eben vor allem darauf auf: auf Vertrauen. Diesem so furchtbar knappen Gut. Ob es die Politik ist, ob es die großen Institutionen unserer Gesellschaft sind: Immer mehr Menschen entziehen das Vertrauen. Natürlich gibt es äußere Gründe dafür. Entscheidend aber ist ein tieferes Problem: dass viele Menschen immer weniger bereit sind, auch gegen die Realität, auch gegen Erfahrungen und Enttäuschungen dennoch zu vertrauen. Dem Leben, dem Mitmenschen, sich selbst. Mag sein auch Gott, der den betenden Menschen zuhört. Das Vaterunser führt hinein in einen selbstverständlichen Raum des Vertrauens, inmitten aller Weltverwundungen. Um in Herrlichkeit, lebensfroh und lebenshungrig, weiterzugehen, gestärkt für den eigenen Weg.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.