Karfreitag | 15. April 2022 | 10.00 Uhr | Dom zu Schwerin

Predigt zu Karfreitag 2022

15. April 2022 von Kristina Kühnbaum-Schmidt

Golgatha - Schädelstätte. Ein Hinrichtungsort. Ein Ort, wo Menschen von anderen Menschen auf grausame Weise zu Tode gebracht werden. Ein Ort von vielen, viel zu vielen auf unserer Erde. Sie alle tragen Namen, die sich eingebrannt haben in das kollektive Gedächtnis der Menschheit, Namen wie diese: Sobibor. Ravensbrück. Srebrenica. Grosny. Omaheke. Trabzon. Aleppo. Zu dieser - Gott sei es geklagt - unvollständigen Liste von Ortsnamen grausamen Geschehens sind in den letzten Wochen weitere dazu gekommen: Butscha. Mariupol. Borodjanka und ach so viele andere.

Eine Litanei der Namen. Ein Klagegesang. Die Gräueltaten, die an diesen Orten geschehen sind und teilweise noch geschehen, stehen nicht einfach nebeneinander. Man kann sie nicht miteinander vergleichen. Sie haben ihre je eigenen Täter, ihre eigene Geschichte, ihre eigene Dynamik, ihre eigenen Ursachen. Aber alle haben sie gemeinsam, was sie bezwecken wollten und erreicht haben: Furcht und Schrecken zu verbreiten, Menschen zu entrechten, zu erniedrigen, zu missbrauchen, zu quälen und zu foltern, sie grausam zu ermorden. Schande über alle, die solches tun!

Zornig und ohnmächtig sage ich diese Worte. Und höre die Worte des gemarterten, sterbenden Christus am Kreuz:

Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun!

Meine Worte sind das nicht, Christusworte sind es. Worte, die so wohl nur er sagen kann.

 

II

Die lange Liste der Verbrechen von Menschen an Menschen, die sich durch die Geschichte der Menschheit zieht, macht deutlich: Wir Menschen sind unter allen Geschöpfen Gottes nicht nur das Wesen, das die Würde allen Lebens entdeckt hat und für sie einzutreten versucht. Sondern wir sind zugleich auch das Wesen, das wie kein anderes alles Leben seiner Würde berauben kann und genau das auf schreckliche und brutale Weise auch immer wieder tut. Menschen rauben Menschen ihre Würde. Menschen tun Böses. Menschen erleiden Böses. Das gehört zur Realität unseres Lebens, zur Realität menschlichen Miteinanders.

Und als alles Volk, das dabei war und zuschaute, sah, was da geschah, schlugen sie sich an ihre Brust und kehrten wieder um. Ist das auch unsere Rolle? Auch wir sind ja dabei. Wir sind bei der Realität des Bösen dabei - vermittelt durch all die Berichte, die uns erreichen: über den Angriffskrieg Putins und Russlands gegen die Ukraine, über den Hunger und die jahrelange Dürre in Ostafrika, über das Leid der Menschen, insbesondere der Frauen und Mädchen, in Afghanistan, und und und. Wir sind dabei. Ganz nah dran. Aber nicht nur durch Erzählungen von denen, die all das miterlebt haben, nicht nur durch Nachrichten, Zeitungs- und Fernsehberichte.

Wir sind dabei, weil wir alle Menschen der einen Erde sind. Miteinander verbunden durch das, was uns alle ausmacht: Unser Menschsein in je eigener Würde und Schönheit. Menschen mit Sehnsucht nach Liebe, angewiesen aufeinander, auf Gerechtigkeit und Frieden. Wo auch nur einer oder einem von uns, den Menschengeschwistern auf dieser Erde, willkürlich das Leben genommen wird, trifft es uns alle mit. Jedes Mal trifft es uns mit - denn es trifft unsere wie in einem lebendigen Organismus miteinander weltweit verbundene Gemeinschaft der Menschengeschwister auf unserer gemeinsamen Erde. Jedes Mal verletzt es unsere Gemeinschaft.

Wir sind dabei. Wir sehen zu, was geschieht. Wir schlagen uns an die Brust vor Trauer und Schmerz, ohnmächtig, entsetzt, starr vor Schreck. Schlafen schlecht. Träumen Alpträume. Versuchen, zu helfen. Tun, was in unserer Macht steht, und erfahren doch unsere Grenzen. Und kehren uns wieder anderen Dingen zu, weil unser Leben ja auch gelebt sein will. Weil die Liebe und die Freude, das Lachen und die Träume doch Raum haben müssen, damit all das Böse nicht übermächtig wird. Weil wir doch wissen und spüren wollen, wie kostbar das Geschenk unseres Lebens ist. Und wofür wir es einsetzen wollen - was für eine Zerrissenheit!

Ich steh vor dir mit leeren Händen, Gott, fremd wie dein Name sind mir deine Wege. - EG 382, Text: Huub Oosterhuis.

 

III

Bist du nicht der Christus?

fragt einer der beiden, die mit Jesus gekreuzigt werden.

Hilf dir selbst und uns!

Ja, Christus, lass uns sehen, wie du helfen willst. Wie hilfst du uns und dir, Christus? Christus schweigt. Er verflucht seine Peiniger nicht. Und er tötet auch nicht seine Gegner. Aber er tröstet den, der ihn bittet:

Jesus, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst!

Ich verstehe das so: Christus lässt sich auch durch Böses, das er am eigenen Leib qualvoll erlebt, nicht davon abbringen, für alle da zu sein, die dem Bösen ausgesetzt. Und damit geschieht erstaunliches: Die Realität des Bösen wird nicht negiert oder verschwiegen, aber sie wird begrenzt. Sie ist nicht alles. Sie wird nicht allmächtig, mag es auch für eine Weile - für drei unendlich lange Tage - so aussehen. Dann aber wird klar, wofür Karfreitag und Ostern stehen: Gott beantwortet Tod nicht mit neuem Tod, sondern mit neuem Leben.

Denn am Karfreitag setzt Gott den ewigen Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt, von Rache und Vergeltung außer Kraft. Der Unmenschlichkeit von Menschen steht eine tiefe Menschlichkeit Gottes gegenüber. Unsere menschliche Destruktivität, Grausamkeit und Gewalt beantwortet Gott nicht mit Rache und Vergeltung – sondern mit Liebe. Mit einer Liebe, die Hass und Zorn überwindet, mit einer Liebe, die sich mitten in die Welt hinein gibt, auch in ihre tiefsten Abgründe, in tiefstes menschliches Elend. Gottes Liebe aber hält all dem stand.

Wie also hilft Gott, wie hilft Christus? Indem sie Böses mit Gutem überwinden. Zu Karfreitag und zu Ostern höre ich das als Zusage Gottes an uns:

Was auch geschieht, wie Menschen auch sind und was sie auch tun mögen, ich lasse mich nicht darin beirren, Böses mit Gutem zu überwinden: Haß mit Liebe, Gewalt und Krieg mit Versöhnung und Frieden, Tod mit Leben. Und ich bitte dich, ich werbe um dich, Menschenkind: Sei du dabei an meiner Seite, arbeite mit mir daran, dass mein Reich des Friedens, der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit immer sichtbarer und erfahrbarer wird.

 

IV

Als aber der Hauptmann sah, was da geschah, pries er Gott und sprach: Fürwahr, dieser Mensch ist ein Gerechter gewesen! 

Der Weg Gottes ist der Weg unbeirrbarer und nicht tot zu kriegender Liebe. Christus ist diesen Weg gegangen, wie niemand von uns ihn zu gehen vermag. Seine Liebe berührt mich zutiefst - auf sie hoffe ich, an ihr will auch mich orientieren. Weil sie für mich der einzige Weg ist, angesichts des Sinnlosen und Bösen in unserer Welt zu leben, ohne selbst böse zu werden oder im Bösen zu versinken.

Niemand von uns muss diesen Weg der unbedingten Liebe gehen, wie Christus ihn gegangen ist. Christus ist diesen Weg für uns, an unserer Stelle gegangen, stellvertretend. Aber er lädt uns ein, dass wir uns an ihm orientieren und immer wieder neu an ihm ausrichten:

Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.

Ein Anfang ist schon gemacht. Ein Weg ist gezeigt. Ein Weg, auf dem wir erfahren können, wie Gutes im Zusammenleben aller Menschen weltweit das Böse überwinden kann.

 

V

Es standen aber alle seine Bekannten von ferne, auch die Frauen, die ihm aus Galiläa nachgefolgt waren, und sahen das alles. 

Die Frauen unter dem Kreuz werden bald die ersten Zeuginnen der alles Böse überwindenden Liebe Gottes sein. Zeuginnen der Auferstehung. Zeuginnen eines neuen Lebens. Die ersten, die vom christlichen Glauben erzählen. Die ersten, die darauf vertrauen, dass Gott Böses nicht nur überwinden kann, sondern dass er es in Tod und Auferstehung Jesu Christi überwunden hat. Und dass er es deshalb in jedem Leben, auch in unserem je eigenen Leben, überwinden kann und wird.

 

VI

Wie die Frauen sehen auch wir, was geschieht. Wir sehen Golgatha. Wir sehen das Kreuz. Aber wir wissen von Ostern. Deshalb lassen wir uns nicht täuschen: Unsere Welt ist nicht die nun auf immer zu Ende gehende, eine sterbende Welt. Sie ist die in Christus schon angebrochene neue Welt, in der Gott unbeirrbar daran arbeitet, alles, wirklich alles Böse mit Gutem zu überwinden und in der er uns einlädt, dabei an seiner Seite zu sein. Als Menschen, die sich nicht damit abfinden, dass die Welt so bleibt, wie sie ist. Als Menschen, die nicht vor scheinbar übermächtigen Mächten und Gewalten in die Knie gehen, sondern niederknien neben denen, die allein nicht mehr auf die Beine kommen.

Karfreitag und Ostern stehen nicht dafür, dass mit dem Tod alles Leben endet. Sie stehen dafür, dass das Leben dem Tod ein Ende macht. Denn Gottes Liebe kommt am Karfreitag nicht an ihr Ende –  und sie wird niemals an ihr Ende kommen – allen lebens- und menschenfeindlichen Mächten zum Trotz.

So stimme ich ein in die Bitte: 

Schließ auf das Land, das keine Grenzen kennt, und laß mich unter deinen Kindern leben. Sei du mein täglich Brot, so wahr du lebst. Du bist mein Atem, wenn ich zu dir bete. - EG 382, Text: Huub Oosterhuis.

 

Amen.

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