Seit 198.000 Tagen geht diese Uhr erstaunlich präzise
04. Februar 2015
Rostock. Sie ist ein europaweites Unikat: die Astronomische Uhr in der Rostocker Marienkirche. Helfer ziehen sie jeden Tag auf. Die Uhr läuft mit erstaunlicher Präzision – seit 198.000 Tagen.
Die Lübecker Astronomische Uhr in St. Marien ist 1942 beim Bombenangriff verbrannt und wurde 1956-67 der alten nachgebaut, nicht leugnend, dass sie ein Kind des 20. Jahrhunderts ist. Von der Wismarer Marienuhr ist durch die Bombardierung im Zweiten Weltkrieg nur noch ein Zeiger übrig, von der Doberaner Münsteruhr ein Ziffernblatt, in Stralsund steht die Uhr zwar, aber sie geht seit 1525 nicht mehr, sagt der Uhrenspezialist Professor Manfred Schukowski. In Europa gibt es viele solche Astronomischen Uhren, auch ältere, aber die Rostocker ist die älteste mit ihrem ursprünglichen Laufwerk funktionierende Uhr ihrer Art in Europa. Mit einer erstaunlichen Präzision: Sie hat eine Ganggenauigkeit von zehn Sekunden.
Kurz vor Weihnachten wurde die Astronomische Uhr in der Marienkirche hinter dem Altar 198 000 Tage alt. Gefeiert wurde aber nicht nur dieses Wunderwerk der Technik – gefeiert wurden auch die Frauen und Männer, die sie jeden Tag – werktags wie feiertags – zuverlässig aufziehen.
Im Sommer kommen die Touristen
Dieser besondere Geburtstag zählt von dem Tag im Jahr 1472 an, so sagt es Gemeindepastor Tilman Jeremias, als die Ablassurkunde für den Bau ausgestellt wurde. Auch wenn wir evangelischen Christen mit Ablass nichts am Hut haben – in diesem Falle freut es uns noch Jahrhunderte später, dass für diesen Zweck Geld gesammelt werden durfte, sagt Jeremias lächelnd.
Jeden Tag um 12 Uhr lädt die Uhr zum Apostelumgang ein. Dann stehen im Sommer, zumindest dann, wenn mehrere Kreuzfahrtschiffe in Rostock oder Warnemünde angelegt haben, manchmal Hunderte Menschen davor und bestaunen die Figuren, die Präzision. Man werde ehrfurchtsvoll, sagt Heide Haarländer (51), die zu den fünf Ehrenamtlichen gehört, die regelmäßig die Uhr aufzieht – ohne jede Elektronik. Jeden Tag müssen vier Uhrwerke betreut werden: die Uhrzeit, die Melodie, der Apostelumgang und der Glockenschlag. Nur der Kalender, das fünfte Uhrwerk, muss nur einmal in der Woche aufgezogen werden. Das passiert meist freitags.
Helfer leisten Knochenarbeit
Die Uhrwerke aufziehen heißt, eine Leiter hochzuklettern und dann Knochenarbeit zu verrichten. Das Hauptwerk, das die Uhrzeit anzeigt, wiegt 62 Kilo – aber ganz so schwer muss der Aufzieher nicht arbeiten. Das Flaschenzugprinzip macht es leichter. Sechs Stunden Spielraum haben die Frauen und Männer – in der Zeit müssen die Laufwerke aufgezogen sein. Sonst bleiben sie stehen. 290 bis 300 Kurbelumdrehungen müssen jeweils ausgeführt werden, hat der Touristikfachmann Rainer Schwieger (46) ausgerechnet, seit zehn Jahren in der Aufziehgruppe, immer montags ist er „dran“.
Georg Martini (65), der 1989 aus Siebenbürgen nach Rostock kam, und bis vor kurzem Küster war in St. Petri, nennt die Uhr „Tante Uhrsula“ oder ehrfurchtsvoll „die alte Dame“. Manchmal streichelt er sie. Er zieht sie am häufigsten auf und ist am besten mit der Mechanik vertraut, kennt jedes Rädchen. Schon als kleiner Junge sei er in Siebenbürgen mit seinem Onkel, der Maurer war und viel an den berühmten siebenbürgischen Kirchenburgen gebaut hat, unterwegs gewesen. Überall gab es auch Turmuhren, die schon den kleinen Jungen interessierten. Martini, der auch kleinere Schäden an seiner Tante Uhrsula repariert, wisse immer als Erster, wenn was mit der Uhr nicht stimme, sagt Gemeindepastor Tilman Jeremias achtungsvoll.
Heide Haarländer kommt ein Mal in der Woche gegen halb 8, vor ihrem Dienst in der Unibibliothek. In der Weihnachtszeit war es ihr manchmal etwas unheimlich, erzählt sie lächelnd, weil da die lebensgroßen Krippenfiguren im Altarraum stehen. Heike Tröger (47) ist ebenfalls Bibliothekarin und seit ungefähr 2000 im Aufzieh-Team. Sie gehört zur Heilig-Geist- Gemeinde, was sie aber nicht daran hindert, ehrenamtlich in der Innenstadtgemeinde tätig zu sein.
Uhrenfest im Reformationsjahr 2017
Als sozusagen wissenschaftliche Mitarbeiter sind Professor Manfred Schukowski (86), von Haus aus Pädagoge, und der Physiker Prof. Fedor Mitschke ehrenamtlich für die Uhr da. Schukowski, Ur-Rostocker, wie er betont, befasst sich seit 1977 mit der Uhr. Er hat viel über sie veröffentlicht. Mitschke bemüht sich stark um die Aufnahme der Uhr in die UNESCO-Weltkulturerbeliste. „Technische Werke sind unterpräsentiert“, sagt er und dass Hilfe vom Land und der Stadt nötig seien bei den Aufnahmevorbereitungen.
Als Dank hatte die Innenstadtgemeinde die fünf Ehrenamtlichen Uhr-Aufzieher, den Initiativkreis Astronomische Uhr mit den Professoren Mitschke und Schukowski auch Stadtkonservatorin Uta Jahnke, Wolfgang Fehlberg von der Uni, Architekt Michael Bräuer und die Vorsitzende des Fördervereins von St. Marien, Hannelore Holzerland, am vergangenen Dienstag, 27. Januar, zum Essen eingeladen. Das nächste große Uhrenfest ist am 8. September 2017 – im Reformationsjahr. Da wird die Uhr 199 000 Tage alt. Am 1. Januar 2018 dann bekommt die Uhr eine neue Kalenderscheibe. Die jetzige ist seit 1885 in Betrieb. Die neue ist bereits angefertigt. Sie wird das 800-jährige Bestehen der Hansestadt Rostock begrüßen. Am Geburtstag von Rainer Schwieger, am 4. Juni 2020, wird die Uhr 200 000 Tage alt.