"Unsichtbare Eltern": Wie ein Hamburger Verein trauernden Müttern und Vätern hilft
31. Mai 2023
„Wir tragen dich in unserem Herzen“ heißt das Motto des Hamburger Gedenkgottesdienstes für früh verstorbene Kinder am 11. Juni. Ins Leben gerufen hat ihn Pastorin Birgit Berg 2009 als sie merkte, wie allein gelassen sich betroffene Eltern fühlen. Heute ist die Initiative ein eingetragener Verein, der die Trauerarbeit aus der unsichtbaren Ecke holen möchte.
Zum Verein "Unsichtbare Eltern"
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Es gibt Eltern, ihr Kind nicht lebend mit nach Hause nehmen können. Stille Geburten, bei denen das Kind schon im Mutterleib oder unter der Geburt verstirbt, sind gar nicht so selten. Es spricht nur kaum jemand darüber, weiß Birgit Berg aus ihrer Erfahrung als Krankenhausseelsorgerin. Und so stehen viele Betroffene wie betäubt vor einem Berg an Entscheidungen, für die ihnen weder ausreichend Zeit noch Erklärungen gegeben werden.
Vom Hochgefühl ins Elend
Sonja Fischer-Frosts Erlebnisse motivierten sie dazu, zusammen mit Pastorin Birgit Berg einen Verein für betroffene Eltern zu gründen. Heute bilden beide den Vorstand von "Unsichtbare Eltern e.V."
Erlebt hat das Sonja Fischer-Frost. Sie und ihr Mann bekamen in der 22. Schwangerschaftswoche gesagt, dass ihr Kind außerhalb des Mutterleibs nicht lebensfähig sei. „Es war unser erstes Kind. Ein absolutes Wunschkind. Wir haben uns wahnsinnig drauf gefreut. Und dann die Nachricht, dass in der Lunge zu viel Flüssigkeit ist. Ich war geschockt und völlig verzweifelt“, erinnert sie sich.
Auf die erste Diagnose folgte das, was sie rückblickend als „Pränatalhorror“ bezeichnet: Eine Reihe von Untersuchungen, bei denen „sofort der Schwangerschaftsabbruch vorgeschlagen wurde“, sagt sie.
Erinnerungen sammeln ist sehr wichtig
Ihr erster Gedanke sei gewesen: „Was meint der Arzt denn mit abbrechen? Das ist doch hier kein Druckauftrag!“, erklärt die Mutter, was in ihr vorging. Was folgt, sind die schwersten Tage ihres Lebens, in denen sie auf die damalige Krankenhausseelsorgerin Birgit Berg stößt. „Sie hat uns im Grunde das Leben gerettet“, sagt Sonja Fischer-Frost.
Denn die Pastorin ermutigt die jungen Eltern, sich selbst Zeit zu geben und Willkommen und Abschied des Kindes zu zelebrieren. Einen Namen aussuchen, Fotos machen, vielleicht einen Fußabdruck anfertigen, das Kind ankleiden, mit ihm kuscheln – und schließlich auch eine Grabstelle für das geliebte Familienmitglied aussuchen. All diese Dinge formuliert Birgit Berg als Option. „Man weiß in dem Moment noch nicht, wie wichtig das ist, aber Erinnerungen sind kostbar“, meint die Pastorin.
Zeitdruck verschlimmert Trauma
In einer solchen Extremsituation sei der erste Impuls zwar oft, wegzurennen und alles, was mit dem Tod zu tun hat, so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Die Erfahrung zeige jedoch, dass Eltern langfristig besser mit dem Verlust umgehen könnten, wenn sie den Abschied bewusst mitgestaltet haben. Die Zeit zum Überlegen komme im Krankenhaus-Alltag bis heute zu kurz, ist sie überzeugt. „Zum Trauma gehört, dass man überrumpelt wird, von etwas, was einen zutiefst erschreckt.“
„Mir wurde noch im Kreißsaal kommentarlos ein Schreiben zur Unterschrift vorgelegt, mit der ich einer Sammeleinäscherung zugestimmt hätte“, erinnert sich Sonja Fischer-Frost. Heute ist sie dankbar, dass sie und ihr Mann dies nicht unterschrieben haben und stattdessen ein individuelles Begräbnis wählten. „Manche Dinge kann man nicht wiederholen“, erklärt Pastorin Berg ihr Engagement für mehr Zeit zum Abwägen aller Optionen.
Erste-Hilfe-Guide für Angehörige
Palliative Geburt: Dabei werden Kinder mit stark eingeschränkter Lebenserwartung bei und nach der Geburt medizinisch betreut, ohne dass sie mit allen Mitteln am Leben erhalten werden.
Um Eltern eine Anlaufstelle zu bieten und in der Öffentlichkeit für mehr Verständnis zu werben, haben sie und engagierte Eltern schon vor Jahren die Initiative „Unsichtbare Eltern“ ins Leben gerufen. Seit 2022 ist sie ein eingetragener Verein. Auf der Website finden sich nicht nur Erste-Hilfe-Tipps für trauernde Mütter und Väter, sondern auch Ratgeber für Freunde. Denn oft sind gute gemeinte Sätze wie „das nächste Kind ist bestimmt gesund“ keine Hilfe, sondern Salz in der Wunde, weiß Sonja Fischer-Frost.
Eine schwere Last
„Auch unser Arzt hat so reagiert“, erinnert sie sich. Aus heutiger Sicht sagt sie, dass er zwar helfen wollte, aber ganz klar in eine Richtung beraten hat. Dass ein Abbruch in einer so fortgeschrittenen Schwangerschaft aber einen Fetozid bedeute, sei nicht thematisiert worden. Auch die Aufklärung über die palliative Geburt als Alternative kam nicht zur Sprache, sagt sie.
Fetozid: Ein Fötus wird im Mutterleib betäubt und getötet. Gesetzlich ist dies nur unter strengen Voraussetzungen möglich.
Was bleibe, sei die schwere Last, selbst aktiv über das Leben des Kindes entscheiden zu müssen. Rückblickend sagt die dreifache Mutter, dass man sich mit einem Abbruch „die Chance auf ein Wunder“ nehme. „Und man nimmt sich gemeinsame Lebenszeit mit dem Kind. Denn im Bauch geht es ihm ja gut“, sagt sie.
Ausgewogene Beratung kommt zu kurz
„Die Pränataldiagnostik ist sehr weit fortgeschritten, aber die Möglichkeit zur individuellen Beratung nicht“, erklärt Pastorin Berg. „Gerade da, wo das Leben beginnt“ müsse aus ihrer Sicht mehr in die Ausbildung von Fachpersonal investiert werden – auch von Seiten der Kirche, ist sie überzeugt.
Vor allem möchte die Pastorin im Ruhestand dafür sorgen, dass Eltern trauern können ohne Schuldgefühle zu haben. Wie sich jemand entscheide, sei eine sehr persönliche Sache, die niemand leichtfertig angehe, meint sie.
Ein Ort zum Trauern
Sonja Fischer-Frost kann inzwischen von sich sagen, dass sie und ihre Familie glücklich sind. Ihre erste Tochter Birla „ist und bleibt ein Teil unseres Lebens.“ Die Liebe zu ihr gebe ihr bis heute Kraft und Energie, sagt sie. Ihre beiden Söhne kommen oft mit zum Grab der Schwester, pflanzen und gießen die Blumen oder bringen Bügelperlenbilder mit. So behalte Birla einen festen Platz „in der Familie und im Herzen“.