Wofür können wir dankbar sein?
01. Oktober 2022
Am 2. Oktober feiern wir Erntedank. Im Interview spricht Landesbischöfin Kristina Kühnbaum-Schmidt darüber, was ihr Landwirtschaft und Schöpfungsverantwortung bedeuten.
epd: Die Erntebilanz fällt 2022 eher gemischt aus. Die Getreide- und Obsterträge sind gut, die Maisernte ist teilweise katastrophal. Zugleich steigen die Lebensmittelpreise. Wofür können wir trotzdem dankbar sein?
Kristina Kühnbaum-Schmidt: Gerade in diesem Jahr erfahren wir, dass die Lebensmittelproduktion nicht selbstverständlich ist. Wir hier in Deutschland leiden zwar nicht wie viele Menschen in anderen Ländern an Hunger, wir haben aber noch nie so stark wie in diesem Jahr gesehen, wie die aktuellen Krisen - Klimawandel, Krieg, unterbrochene Lieferketten und Inflation - die Produktion von Lebensmitteln erschweren. An Erntedank können wir für die Lebensmittel, die trotz der miteinander verbundenen Krisen produziert wurden, sowie den Landwirtinnen und Landwirten sehr dankbar sein. Die Polykrise, in der wir uns befinden, zeigt gleichermaßen unsere Verletzlichkeit wie unsere Verbundenheit in einer globalisierten Welt.
Wo sehen Sie agrarpolitisch in Deutschland die größten Aufgaben? Was müsste aus Ihrer Sicht anders laufen?
Wenn wir uns die drei Aspekte von Nachhaltigkeit - Ökonomie, Ökologie und Soziales - anschauen, müssen wir feststellen, dass unser Ernährungssystem nicht nachhaltig ist und das heißt: für die Zukunft nur sehr bedingt lebensdienlich.
Wir haben große ökologische Herausforderungen, wenn wir etwa an die Bereiche Klimawandel und den enormen Verlust der Biodiversität denken. Hier steht die Landwirtschaft – bei allem Bemühen und Fortschritt – weiterhin vor großen Herausforderungen. Auch im sozialen Bereich gibt es deutlichen Bedarf nach Verbesserungen, zum Beispiel im Blick auf prekäre Arbeitsbedingungen in Schlachthöfen oder bei Erntehelfer*innen. Außerdem benennen Landwirte selbst, dass der Umgang mit sogenannten Nutztieren weiter verbessert werden muss.
Wie steht es um die wirtschaftliche Seite?
Dass der ökonomische Aspekt für viele Landwirte immer weniger stimmig ist, merke ich immer wieder in Gesprächen, die ich führe. Auf der einen Seite steht die Landwirtschaft unter enormem finanziellem Druck, der durch die entstandenen Knappheiten etwa im Bereich von Futtermitteln oder Energie, in diesem Jahr noch einmal gestiegen ist.
Ich denke insbesondere an die landwirtschaftlichen Familien, die morgens aufstehen und den ganzen Tag arbeiten, um uns mit Lebensmitteln zu versorgen, die genau davon selbst aber kaum oder gar mehr leben können. Viele Bäuerinnen und Bauern sehen keine Perspektive.
Als Folge davon wollen und können Betriebe oftmals nicht weitergeführt werden. In den nächsten Jahren ist zu befürchten, dass weitere Betriebe ihre Hoftüren für immer schließen. Dieser bevorstehende Strukturbruch in der Landwirtschaft bereitet mir Sorgen. Hinzukommt, dass viele Verbraucher*innen durch die gestiegenen Preise in diesem Jahr zu billigen Produkten greifen.
Was fordern Sie?
Kühnbaum-Schmidt: Wir brauchen ein Ernährungssystem, in dem ökologische Ressourcen geschont werden, Haltungsbedingungen für die Nutztiere deutlich besser sind und Betriebe von den Erträgen leben können - das alles zu Preisen, die Verbraucherinnen und Verbraucher bezahlen können und wollen.
Das erreichen wir wohl nur, wenn wir eine Haltung und eine Kultur der Nachhaltigkeit entwickeln. Für mich ist der christliche Glaube dabei grundlegend.
Die Kirche ist landwirtschaftliche Akteurin, etwa als Landverpächterin. Andererseits verbraucht sie Agrar-Produkte, etwa in Kantinen, Kindergärten oder auf Gemeindefesten. Inwieweit geht die Kirche in diesen Rollen mit gutem Vorbild voran?
Es ist richtig, dass die evangelische Kirche in Bezug auf Landwirtschaft und Ernährung mehrfache Akteurin ist. Zum einen vertreten wir im Sinne der öffentlichen Verantwortung von Kirche Positionen zur Gestaltung unseres Ernährungssystems und beteiligen uns am gesellschaftlichen und politischen Diskurs; zum anderen sind wir selbst Verbraucher*in und verpachten Flächen an landwirtschaftliche Betriebe.
Das bedeutet, wir können an drei Stellen aktiv Verantwortung übernehmen. Wenn wir eine Ökologisierung in der Landwirtschaft wünschen, sollten wir unsere kirchlichen Flächen auch an Landwirtinnen und Landwirte verpachten, die umweltfreundliche und nachhaltige Landbewirtschaftungsverfahren umsetzen. Wir sollten selbst nachhaltige Produkte kaufen.
Hier können wir als Kirche Anreize setzen. Bei uns in der Nordkirche wird zum Beispiel Kirchengemeinden, die vorbildlich ökologisch handeln, das Siegel „ÖkoFaire Gemeinde“ verliehen.
Die Medien überschwemmen den Verbraucher täglich mit Appellen, sich nachhaltiger zu ernähren. Wer auch nur ansatzweise Einblick in die land- und fischwirtschaftlichen Zusammenhänge bekommt, muss an dieser Aufgabe verzweifeln und kann kaum noch guten Gewissens essen gehen oder Lebensmittel einkaufen. Wir können wir als Menschen, die nun einmal essen müssen, frei und fröhlich leben?
Gottes Zusage, dass wir Menschen von ihm geliebt und „gerechtfertigt“ sind, entbindet uns nicht von Verantwortung, sondern im Gegenteil: sie ruft uns zur Verantwortung gegenüber unserer Mitschöpfung.
Weil uns die Liebe Gottes sozusagen vorauseilt, sind wir ja dazu befreit, trotz vermeintlich alternativloser Gegebenheiten oder Gewohnheiten nach neuen Möglichkeiten des Handelns zu suchen.
Ich kann aber das Gefühl verstehen, sich als einzelner Mensch unwirksam oder auch überfordert zu fühlen. Individuelles Handeln braucht eben auch unterstützende Strukturen sowie politische Entscheidungen und umgekehrt.
Die Politik scheint oft auch überfordert.
Dennoch möchte ich Mut machen: Als Menschen sind wir ja nicht allein, sondern wir leben und handeln in Verbundenheit und Gemeinschaft mit anderen.
Ich halte es für wichtig, dieses Bewusstsein zu stärken und deutlich zu machen, dass wir gemeinsam für unser Leben und unsere Lebensgrundlage, nämlich für einen achtsamen Umgang mit Gottes Schöpfung und für Gerechtigkeit im Zusammenleben in unserer einen Welt, verantwortlich sind.
Ich sehe das weniger als eine auferlegte Last, sondern als Ermutigung. Denn als Christinnen und Christen leben und handeln wir im Horizont der Möglichkeiten, die Gott für das Leben seiner ganzen Schöpfung immer wieder neu eröffnet.
Sollen wir dem Schöpfer quasi zuarbeiten?
Im Grunde genommen ja, ich möchte aber hier den Begriff der Mitarbeit stark machen. In seiner Genesisauslegung hat Martin Luther den Menschen als cooperator Dei, als Mitarbeiter Gottes, beschrieben. Als solche sind wir eingeladen, das eigene Leben in Verantwortung vor Gott zu gestalten und mitzuwirken an Gottes fortgesetzter Erhaltung der Welt. Klar bleibt dabei, dass allein Gott Leben schafft und es zu erhalten vermag.
Noch einmal mit Martin Luther gesagt: „Gott Vater, Gott Sohn mit dem Heiligen Geist lassen von ihren Werken nicht ab und hören nicht auf, an dem, das sie geschaffen haben, zu wirken.“
Das finde ich tröstlich und ermutigend zugleich, nicht nur zu Erntedank!