„Aber so ist es unter euch nicht; sondern wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein“.
26. März 2023
Predigt anlässlich des Festgottesdienstes zum 100. Bestehens der Nordschleswigschen Gemeinde
Liebe Festgemeinde,
zum 100. Geburtstag der Nordschleswigschen Gemeinde gibt es ein Magazin mit dem schönen Titel „Wo Menschen sich begegnen“ und darin kommen viele ganz unterschiedliche Menschen aus der Gemeinde zu Wort – alte und junge, Konfirmandinnen, Kirchenälteste, Pastorinnen und viele andere. Sie antworten auf einen bestimmten Katalog von Fragen. Natürlich werden sie nicht gefragt: Was wünscht du dir zum 100. Geburtstag der Nordschleswigschen Gemeinde?
Aber sie beantworten beispielsweise die Frage, was für sie der Himmel auf Erden wäre. Für die meisten hat das mit Frieden zu tun. Und wenn der Wunsch nach Frieden auch nicht ausdrücklich genannt wird, dann geht es darum, dass Menschen miteinander lachen, singen oder gemeinsam essen und manchmal um Situationen, in denen sich ganz individuell ein Wohlgefühl einstellt.
Das Bild vom Himmel auf Erden beschreibt genau die Sehnsucht, dass sich die individuellen Wünsche auch mit den Wünschen der anderen verbinden. Für die Brüder Jakobus und Johannes, da scheinen sie sich einig zu sein, wäre das der Fall, wenn einer links und einer rechts von Jesus sitzen könnte und zwar für immer und ewig – in seiner Herrlichkeit.
Die Sehnsucht, ihm nahe zu sein oder Gott selbst nahe zu sein, ist doch etwas Wunderbares, wenn damit nicht ein bestimmter Anspruch einhergehen würde. Mit dem Sitzen zu Rechten und zur Linken ist das Bild vom Thron verbunden und damit der Anspruch auf Macht und Herrschaft.
Die Strukturen von Herrschaft und Gewalt durchkreuzt Jesusaber sofort: „Aber so ist es unter euch nicht (bzw. so soll es nicht unter euch sein); sondern wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein“.
Und doch sind wir auf Erden immer in der Versuchung, uns zu messen: wer näher dran ist, wer besser dienen kann, gerechter lebt oder den wahren Glauben hat.
Dabei beginnt es immer mit der Sehnsucht, einen Platz zu finden, dazuzugehören und angenommen zu sein.
Die Geschichte der Nordschleswigschen Gemeinde, ja überhaupt des kirchlichen Lebens im deutsch-dänischen Grenzland, erzählt davon, wie der Wunsch, sich zu behaupten zu Abgrenzungen und Spaltungen führte.
Die Grenzziehung 1920 war die Voraussetzung, um gewaltsame Konflikte zwischen den Nationen zu befrieden und so war das kirchliche Leben lange geprägt von Gegensätzen: deutsch und dänisch, aber auch Stadt und Land.
Trotz dieser Gegensätze waren die Gründung der Minderheitenkirchen davon geprägt, dass die dänische Kirche in Südschleswig davon profitierte, dass es die Nordschleswigsche Gemeinde gab und umgekehrt. Damals war es eine rein interessengeleitete Unterstützung der anderen.
Doch heute sind gerade die Nordschleswigsche Gemeinde und die Dänische Kirche in Südschleswig wie die Minderheiten nördlich und südlich der Grenze zu Botschafterinnen der Mehrsprachigkeit geworden.
Vor hundert Jahren war es wichtig, eine Möglichkeit zu schaffen, Gottesdienste in der je eigenen Sprache feiern zu können. So soll es eben auch sein. Das macht die christliche Kirche von Beginn an aus, dass wir in der je eigenen Sprache von den großen Taten Gottes hören und auch in der Sprache beten, in der wir träumen.
Deshalb hat Martin Luther die Bibel übersetzt und auch in Dänemark gibt es seit der Reformation eine dänische Bibel. Zugleich gibt es so viele größere und feinere Unterschiede – in der Sprache, im Gottesdienst beim Singen, die wir heute als Bereicherung erleben.
An vielen Orten in Europa haben wir in der Geschichte gelernt, welche Folgen es hat, wenn sich die Sehnsucht nach Zugehörigkeit mit einem überhöhten Nationalgefühl verbindet. Wenn es zu Ausgrenzungen und Abspaltungen kommt und dabei auch Gewalt und Zerstörung in Kauf genommen werden.
Und wenn wir heute auf den Krieg in der Ukraine schauen, stehen wir ratlos vor der Frage, wie die Sehnsucht nach Frieden dort politisch und kulturell eines Tages Wirklichkeit werden kann.
Es geht so schnell, dass Konkurrenz und Neid zu einem Gegeneinander und Feindschaft werden. Die vergangenen hundert Jahre hier im Grenzland haben uns gezeigt, wie lange es dauert, bis aus Feindschaft ein freundschaftliches Miteinander wachsen kann.
So leben wir heute unseren christlichen Glauben im Grenzland: Miteinander und in einem feinen Bewusstsein dafür, dass durch die jeweilige Sprache und kulturelle Prägung sich vieles anders anfühlt. Erzählen uns die Geschichten, die uns verbinden und auch die, die uns trennen.
Ich bin dankbar für all die wunderbaren Begegnungen im Grenzland und den reichen Schatz an Erfahrungen, den wir miteinander teilen. Und uns dabei gegenseitig fragen: Was macht uns eigentlich aus, als Mehrheits- oder Minderheitenkirche nördlich und südlich der Grenze. Durch diese Begegnungen werden Grenzen durchlässig und zugleich lernen wir, mit ihnen zu leben.
Dass wir heute gemeinsam feiern, kommt uns – Gott sei Dank – ganz selbstverständlich vor und zugleich entdecken wir seit einer Weile, wie wunderbar es ist, Anlässe und Feste im Grenzland gemeinsam zu begehen. Gemeinsam zu feiern ist schließlich ein Bild dafür, dass die Grenze zwischen Himmel und Erde durchlässig ist.
Wie sehr wir auch davon geprägt sind, uns auf Erden abzugrenzen, so gibt es doch immer Momente, in denen wir das Trennende überwinden und der Anspruch Jesu: So ist es unter euch nicht erlebbar wird.
Ich muss an dieser Stelle noch eine kleine persönliche Geschichte erzählen: Im Jahr 2019 besuchte Eure dänische Königin die dänische Minderheit im Landesteil Schleswig. Und ich bekam eine Einladung zum Mittagessen auf Schloß Gottorf. Als ich dort meinen Platz suchte, sah ich, dass ich am Tisch der Königin Platz nehmen durfte. Als ich an den Tisch kam, sah ich, dass mein Platz direkt neben der Königin war. Ich war überrascht und verunsichert, denn ich wusste überhaupt nicht, wie ich mich verhalten sollte.
Reden oder Schweigen. Welche Sprache, welche Themen? Ich entschied mich fürs Schweigen. Die Königin leider auch. Und Ministerpräsident Günther auf der anderen Seite auch. Irgendwann habe ich vorsichtig ein Gespräch begonnen und dann haben wir uns angeregt unterhalten – auch über Kirchenlieder und vor allem über das Lied, das wir gleich gemeinsam singen werden: „Sieh da hebt die Sonne aus dem Meer…“
Im Blick auf den heutigen Predigttext fiel mir dieses Erlebnis ein, weil es mit Jesus vielleicht so ist, dass wir manchmal von ihm eingeladen werden. Und wenn wir dann überrascht oder sprachlos sind, dürfen wir ihn einfach ansprechen. In unserer Sprache und mit dem, was uns auf dem Herzen liegt.
Ich bin froh, dass wir hier im Grenzland auch mit unseren Grenzen leben können, mit den kulturellen Zugehörigkeiten und sprachlichen Unterschieden. Und die Sehnsucht, angenommen zu sein, kann sich weiten zu einer Sehnsucht nach mehr Himmel auf Erden.
Der Himmel kennt keine Nationen und die Ewigkeit wird grenzenlos sein. Sie umfasst alles, sie verwandelt alles:
was getrennt ist, wird verbunden; was nicht zusammenpasst, fügt sich zu einer Einheit durch Gottes schöpferische Liebe.
Das ist die Zukunftsperspektive von Gottes Ewigkeit, die schon heute durch unsere Grenzen hindurchscheint.
Amen.