Ansprache zum Volkstrauertag
14. November 2010
„Wie macht man dem Menschen-Thiere ein Gedächtnis?“ – hat Friedrich Nietzsche geklagt: „Wie prägt man diesem stumpfen, faseligen Augenblicks-Verstande, dieser leibhaften Vergesslichkeit etwas so ein, dass es gegenwärtig bleibt?“
Das Gedächtnis ist der Kern eines Menschen. Gedächtnisverlust ist Verlust an Persönlichkeit. Nur wer sich erinnern kann und mag, wer es wagt, den Blick zurück zu wenden, wird wissen können, wohin es gehen kann! Aus dem Verdrängen wächst keine Hoffnung!
Gedenktage, Gedenkstätten gehören zum Gedächtnis einer Gemeinschaft. Sie sind Übungen, die Bilder der Geschichte nicht zu vergessen. Der Knoten im Taschentuch eines Volkes.
Wer die Schrecken der Vergangenheit vergisst, die unsäglichen Taten und Untaten, die unsäglichen Schmerzen und Leiden, der läuft Gefahr, sie zu wiederholen. Was sonst in der Welt ist ein Damm gegen die ungeheure Bestialität, mit der der Homo Sapiens seine Artgenossen überziehen kann, wenn nicht dies: dass wir eingedenk bleiben der Opfer und Schmerzen unserer Mütter und Großmütter, eingedenk bleiben der Taten und Untaten unserer Väter und Vorväter. Erinnerung ist das Geheimnis der Menschwerdung, das Geheimnis der Erlösung, wie es im jüdischen Talmud heißt. Wir ehren nicht nur die Toten, wenn wir uns hier und heute vor den Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft verneigen und ihrer gedenken. Wir sorgen dadurch auch für uns selbst, unsere eigene Menschwerdung, und für die Menschwerdung unserer Kinder und Kindeskinder. Und für die Friedensfähigkeit der Menschen hier und anderswo.
Ich bin sehr dankbar, dass an so vielen Orten der Volkstrauertag zum Anlass genommen wird, in unseren Schulen durch Projekte mit Schülerinnen und Schülern die Erinnerung an die Schrecken der Kriege wach zu halten und nach Konsequenzen für unsere Gegenwart und Zukunft zu fragen. Erinnerung und Gedächtnis sind die einzigen Mittel, die unser Denken und unseren Verstand so schärfen, dass wir tatsächlich aus der Geschichte lernen, wie es immer so schön heißt, und dass wir tatsächlich den Wert des Lebens und die unabdingbare Notwendigkeit eines friedlichen Zusammenlebens und Zusammenwirkens der Menschen und Völker erkennen - in der Welt und genauso auch direkt vor der Haustür, in unserem eigenen Land. Wir kennen seit 65 Jahren keinen heißen Krieg mehr, und auch der kalte Krieg ist seit 20 Jahren vorbei – Gott Lob, und Gott sei Dank! Damit das so bleibt, erinnern wir uns. Und indem wir uns erinnern, bedenken wir auch, dass an anderen Orten dieser Welt Krieg ist, Waffen schreien, Menschen um ihr Recht gebracht sind, verfolgt und vertrieben werden. Was lange her ist, ist immer noch Gegenwart! Seit 1945 wurden weltweit mehr als 238 Kriege geführt, man spricht von bis zu 25 Millionen getöteten Zivilisten, die Pest von Landminen und Streubomben hat ganze Landstriche verseucht. Killing Fields für die ärmsten der Armen, die ohnehin wenig anderes mehr zu verlieren haben als ihr Leben.
An „kriegsähnliche Zustände“, so scheint mir, haben wir uns inzwischen gewöhnt, auch daran, dass unsere Soldatinnen und Soldaten darin verwickelt sind. Das darf unsere Herzen und unseren Verstand nicht kalt lassen. Unsere Gedanken gehen heute zurück in die dunkelsten Zeiten unseres Volkes. Sie sollen und müssen aber auch nach draußen und nach vorn gehen, in die Welt hinaus und hin zu einer friedvollen Zukunft für alle Menschen! Ein Anrecht auf unsere Solidarität haben auch die Frauen und Männer, die in Auslandseinsätzen Gesundheit und Leben riskieren. Wir sollen und dürfen sie mit ihren Waffen und ihrem Auftrag nicht allein lassen. Zu viele sind bereits uns Leben gekommen. Ihnen und ihren Familien gilt unser Mitgefühl. Wir dürfen uns nicht gewöhnen an Trauergottesdienste anlässlich der Rückführung gefallener Soldaten in ihr Heimatland! Das muss uns ständig fragen lassen nach der Rechtfertigung militärischen Einsatzes, wo auch immer in der Welt. Quer durch alle Parteien und gesellschaftlichen Gruppen wie auch in unserer Kirche fragen wir so. Die Friedensdenkschrift der EKD „Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen“ (2007) bindet den Einsatz militärischer Gewalt an „Recht-schaffende“ und „Recht-erhaltende“ Gewalt. Darüber hinaus fordert unsere Denkschrift aber für jeden militärischen Einsatz klare Zielsetzungen, ein umfassendes Konzept und eine Ausstiegsstrategie.
Si vis pacem, para pellum, war die Weisheit der Römer – wenn du Frieden willst, bereite den Krieg vor. Die Christliche Ethik sagt: Wer Frieden will, muss den Frieden vorbereiten.
„Es soll nicht geschehen durch Heer und Kraft, sondern durch meinen Geist, spricht der Herr, Dein Gott!“ – So findet sich die klare Aussage beim Propheten Sacharja.
Diese Grundeinsicht christlicher Friedensethik gilt unbedingt! Christenmenschen sehen die Realität der Gewalt in der Welt. Aber sie können sich nicht zufrieden geben mit Gewalt jeder Art: „Selig sind die Frieden stiften“, sagt Jesus. Dies ist gesagt in eine Welt hinein, in der immer wieder Gewalt regiert, nicht immer nur als ultima ratio, sondern leider immer noch auch als Mittel der Macht-Durchsetzung.
Es ist „in der noch nicht erlösten Welt“ so, dass auch militärische Gewalt als allerletztes Mittel ethisch legitim und sinnvoll sein kann. Der Staat hat „nach göttlicher Anordnung die Aufgabe, nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen“. (wie es die Bekennende Kirche 1934 in Barmen formuliert hat). Aber wir sehen auch, gerade in den Gebieten der Welt, in denen auch unsere Soldatinnen und Soldaten im Einsatz sind: Immer mehr Waffen schaffen eben nicht immer mehr Frieden. „Mit unseren Waffen allein können wir nicht Frieden schaffen“, sagen mir Soldaten, die aus Auslandseinsätzen zurückgekehrt sind. Der Aufbau ziviler Strukturen, die Wiederherstellung lebensfähiger Strukturen, der Bildung z. B., müssen im Vordergrund der Bemühungen stehen. Als Christen streben wir nach dem „gerechten Frieden“, dem Frieden als Rahmen, innerhalb dessen dann ein gutes Zusammenleben innerhalb der Staaten und auch zwischen Staaten sich entwickelt. Wir glauben nicht an eine „pax romana“, die irgendeine Supermacht mit ihren Göttern in Uniform in welcher Form auch immer erzwingt. Wir glauben an die „pax Christi“ – eine rechtlich abgesicherte Friedensordnung, die ermöglicht Freiheit und Gerechtigkeit!
„Frieden muss gewagt werden“ – das bleibt eine Wahrheit, die der Theologe und Widerständler Dietrich Bonhoeffer zu seiner Zeit im Kampf gegen die aggressive Ideologie und Politik Adolf Hitlers und des nationalsozialistischen Regimes hervorgehoben hat. Wer Frieden will, muss auch Fantasie für den Frieden wagen und entwickeln. Frieden ist mehr als die Abwesenheit von Krieg, und dazu braucht es kreative Köpfe und mutige Herzen.'
Sind wir selbst ausreichend "entwickelt", fantasievoll genug, mutig genug für ein gerechtes Zusammenleben der Kulturen nicht nur, sondern auch der verschiedenen sozialen Gruppen? Armut und Benachteiligung sind immer wieder Ursache für Gewalttaten, Terror, Krieg und Vertreibung. Die Globalisierung verstärkt diese Problematik noch. Trotz aller krisenhaft erlebten Zustände leben wir in einem reichen Land. Europa ist trotz aller drohenden Staatspleiten ein kulturell hoch stehender Kontinent. Wir können uns nicht vor unserer Verantwortung drücken. Wir sind und bleiben verantwortlich und mitverantwortlich: nicht nur für uns, auch für das Leben der Menschen weltweit.
Auch bei uns gibt es immer weniger Menschen, die immer reicher werden und immer mehr Menschen, die kaum haben, was sie zum Leben brauchen. Wenn wir Frieden wollen, inneren Frieden, dann dürfen wir auch hier über Armut und Benachteiligung nicht hinwegsehen. Auch das gehört zur Fantasie für den Frieden, den inneren und den äußeren Frieden! Denn Frieden gibt es nicht ohne Recht und Gerechtigkeit für alle Menschen. Frieden gibt es nicht ohne die Teilhabe aller Menschen an den Ressourcen der Welt: an Brot und Bildung, an Liebe und Arbeit. Und Teilhabe gibt es nicht ohne Teilgabe: ohne den Willen, zu teilen, was uns gegeben ist.
Und eine Form des Teilens ist die Integration der Fremden, der Religionen und Kulturen. Auch sie ist Voraussetzung für dauerhaften Frieden in einer Welt, die ein Dorf geworden ist. Und Integration ist keine einseitig zu erwartende Leistung derer, die kommen, sondern es ist auch eine zu erwartende Leistung derer, die empfangen: braucht Offenheit und Neugier, braucht die Gewissheit, dass Vielfalt nicht der Ausverkauf der Identität ist, sondern Bereicherung! Dass das Fremde nicht etwas Feindliches ist, sondern freundliche Spielart der Schöpfung!
Wenn die Trauer und der Schmerz angesichts der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft dieser unauflösliche Knoten im Taschentuch unseres Volkes sind und bleiben, die uns beständig mahnen, dass wir aufgerufen sind zu Fantasie und Mut für den Frieden – dann erfüllt der Volkstrauertag seine Bestimmung und bringt uns selbst, unser Land und unsere Welt einen Schritt weiter auf dem Weg des Friedens.
Schwestern und Brüder, lasst uns darin nicht müde werden. Wir schulden Mut und Fantasie zum Frieden den Opfern der Kriege, des Terrors und der Gewaltherrschaft in unserer Welt. Damals und heute. Um der Hoffnung willen, die aus der Erinnerung wächst!