Ehrung für kirchlichen Friedensaktivist

Aufarbeitung des SED-Unrechts: Pastor Arvid Schnauer erhält Bundesverdienstkreuz

Arvid Schnauer hat sich jahrzehntelang für Frieden und Gerechtigkeit eingesetzt. Dafür wird er mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande geehrt.
Arvid Schnauer hat sich jahrzehntelang für Frieden und Gerechtigkeit eingesetzt. Dafür wird er mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande geehrt. © O. Arscholl

29. März 2022 von Julia Krause

Berufsverbote, Exmatrikulationen, Haft: Wer sich in der DDR systemkritisch äußerte oder auch nur den Anschein davon erweckte, musste mit Repressalien rechnen. Arvid Schnauer hat nach der Wende im Gerechtigkeitsausschuss der Stadt Rostock dafür gekämpft, dass die Opfer dieses Regimes rehabilitiert werden. Jetzt hat der emeritierte Pastor dafür das Bundesverdienstkreuz am Bande verliehen bekommen.

Mehr zur Arbeit Arvid Schnauers: zeitzeugenbuero.de

Arvid Schnauer war erstaunt, als eine ehemalige Mitarbeiterin ihm im Januar mitteilte, dass er bald eine freudige Überraschung erleben werde. Mehr dürfe sie nicht verraten. Kurz darauf erhielt der Theologe ein Schreiben von Ministerpräsidentin Manuela Schwesig, in dem sie ihm die Ehrung mit dem Bundesverdienstkreuz durch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mitteilte. Der Orden selbst kam im DHL-Paket. Ein bisschen gewöhnungsbedürftig sei diese Übergabe zwar, aber durch die Erkrankung der Ministerpräsidentin eben nicht zu ändern, meint der 84-Jährige. Freuen würde er sich dennoch sehr über die Auszeichnung.

Hunderte melden sich bei Gerechtigkeitsausschuss

Und wer auch nur einen kleinen Blick in die Dokumente („Eingaben“ genannt) des Rostocker Gerechtigkeitsausschusses wirft, muss anerkennen, dass Arvid Schnauer und sein Team Großes geleistet haben: Es sind hunderte Bürgerinnen und Bürger, die sich bei ihm und seinen Mitstreitern allein in den ersten Monaten nach Gründung des Ausschusses meldeten, weil sie sich zu Zeiten der DDR von staatlicher Seite diskriminiert, diffamiert und in ihrer Existenz bedroht fühlten.

Zur Person 

Arvid Schnauer war in den 1960er Jahren Pastor in Blankenhagen, ab 1974 dann in der Südstadtgemeinde Rostock. Schließlich übernimmt er mit seiner Frau Jutta, die ebenfalls Pastorin ist, die neugebildete Pfarre im Rostocker Neubaugebiet Groß Klein. Von 1963 bis 1981 ist er zudem Oberschüler-Pastor im Landesjugendpfarramt der evangelisch-lutherischen Landeskirche Mecklenburgs.

Das Pastoren-Ehepaar setzt sich zu Zeiten der DDR für die friedliche Revolution ein, organisiert etwa Friedensandachten für politische Gefangene. Dieses Engagement bringt Arvid Schnauer im Herbst 1989 die Berufung in den neu gegründeten Rostocker Gerechtigkeitsausschuss ein. Ab Mai 1990 leitet er ihn bis zur Beendigung der Ausschuss-Arbeit 1994.

Außerdem setzen sich Jutta und Arvid Schnauer nach den gewaltsamen, rechtsextremen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen 1992 für ein friedlichen Miteinander der Kulturen und gegen Rassismus ein. Ihr Credo: „Zündet Kerzen an, nicht Häuser.“ Zu Arvid Schanuers weiteren Ehrenämtern gehört das Amt des Sprechers des Agenda 21-Rates (2006 bis 2016), der sich um die nachhaltige Entwicklung der Stadt Rostock kümmert.

Arvid Schnauer bekommt 1996 den Kulturpreis der Stadt Rostock verliehen. Er schreibt drei Bücher (erschienen 2009, 2011 und 2019) über die Arbeit des Gerechtigkeitsausschusses. Im Frühjahr 2022 wird ihm das Bundesverdienstkreuz am Bande von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier verliehen. Eine ofizielle Feier steht aktuell noch aus.

Gegründet wurde der „zeitweilige Gerechtigkeitsausschuss der Stadtverordnetenversammlung“ im Herbst 1989, wohl gemerkt noch unter SED-Führung, um dieses Unrecht aufzuarbeiten. Rostock war damit nicht allein, auch andere Städte gründeten Gremien dieser Art. Doch der Rostocker Ausschuss sollte eine Besonderheit werden – denn er erwies sich als besonders hartnäckig und langlebig. Doch dazu später mehr.

Ein kirchlicher Friedensaktivist 

Als erstes Problem erwies sich, dass der Ausschuss zunächst noch aus den alten Stadtoberen gebildet werden sollte – also SED-Treuen. Doch der Druck der Öffentlichkeit sorgte dafür, dass auch je zwei Vertreter der evangelischen Kirche und des Neuen Forums berufen wurden.

Aus dem Kirchenkreis Rostock waren dies Stadtjugendwart Lothar Jentzsch und Pastor Arvid Schnauer. Letzterer hatte sich dadurch einen Namen gemacht, dass er Schülern Diskussionstreffs anbot und Jugendlichen beistand, die in Konflikt mit der Staatsmacht geraten waren. Zudem war er maßgeblich an den Friedensgebeten und Fürbittenandachten für verhaftete Demonstranten beteiligt. 

Dokumente erzählen von unglaublichem Leid 

Schon bald nach der Gründung des Gerechtigkeitsausschusses und der ersten freien Wahl wird Schnauer zum Vorsitzenden gewählt. Was er bei seiner Arbeit erlebt, ist erschütternd: In ihren Eingaben schildern die Menschen, was ihnen widerfahren ist, weil sie angeblich dem Westen zu nahestanden oder sich der Beeinflussung durch die Staatsideologie widersetzten. Die Rede ist von gezielter Vernichtung der Berufskarrieren bis hin zu langjährigen Haftstrafen. Dafür reichte es mitunter aus, West-Radio gehört oder einen Witz auf Kosten des SED-Regimes gemacht zu haben. 


Besonders eindringlich sind ihm die Schicksale vieler Seeleute in Erinnerung geblieben, die aus politischen Gründen ein Berufsverbot erhielten. „Ich weiß noch genau, wie ein ehemaliger Offizier ins Büro des Generalsdirektors der SED gezogen ist und sich dort vor dem versiegelten Schrank aufgebaut hat. ‚Da steht drin, warum ich mein Seefahrtsbuch verloren hab‘, hat er gerufen und war nicht wegzubewegen“, sagt Schnauer.

Rehabilitierung vieler Seeleute erreicht

Ein bekannter Rostocker Chief, Schnauer und seine Mitstreiter erkämpfen sich die Chance, Einblicke in die internen Geheimdokumente der BKG (Betriebliche Kontroll- und Beratungsgruppe des Generaldirektors) zu erhalten, die bislang unter Verschluss waren.

„Wir haben dann mit unglaublicher Rückendeckung der Öffentlichkeit alle Reha-Forderungen der Seeleute verhandelt, weil wir nun Einblick in die BKG-Unterlagen bekommen hatten“, erinnert er sich. Tatsächlich fanden sich in dem Panzerschrank alle Beweise für zu Unrecht erteilte Berufsverbote. Die Deutsche Seerederei richtete einen Sozialfonds ein, aus dem für die Geschädigten dann die Rehabilitierungssummen gezahlt werden konnten. Allein die Deutsche Seerederei Rostock (DFSR) teilte an hunderte Seeleute Entschädigungen aus, sagt Schnauer noch immer tief bewegt. 

Rostocker Ausschuss beweist langen Atem

„Gut 3,5 Millionen DDR-Mark und eine gute halbe Million Westmark sind so ausgezahlt worden“, erinnert er sich. Und das, ohne dass es dafür eine gesetzliche Grundlage gab. „Mit der Rehabilitierung bekamen diese Menschen aus reiner Kulanz Summen zwischen 3.600 und 21.000 Mark“. Das sei mehr als der Ausschuss und die Betroffenen anfangs zu hoffen wagten, erklärt Schnauer.

Der Rostocker Gerechtigkeitsausschuss ist damit – anders als die Ausschüsse anderer Städte – nicht nur eine moralische Instanz. Er trägt auch zur juristischen Klärung vieler Unrechtsfälle bei. Geschafft hat es das Team um Arvid Schnauer mit unglaublicher Akribie, Unerschrockenheit und einem langen Atem.

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Arvid Schnauer bei der Vorstellung seines jüngsten Buches 2019 in Rostock. © Privat

„Ausschüsse dieser Art gab es viele. Aber die meisten haben im März 1990 ihre Arbeit eingestellt. Wir nicht. Wir haben bis 1994 weitergemacht“, sagt der ehemalige Pastor stolz. Dabei ging es unter anderem auch um die Auseinandersetzung mit der Treuhandanstalt und erhöhte Abfindungen für SED-Kader.

Unerschrocken ans Werk

Seine Erlebnisse und Arbeitsergebnisse hat Schnauer in mehreren Büchern veröffentlicht. Das jüngste ist eine wissenschaftliche Dokumentation und heißt: „DDR-Unrecht wiedergutmachen – neues Unrecht aufdecken“. Erschienen ist es 2019 mit einem Vorwort des ehemaligen mecklenburgischen Landesbischofs Dr. Andreas von Maltzahn. Darin belegt Schnauer anhand von zahlreichen Beispielen, welche Anträge den Ausschuss erreichten und wie dieser dann vorging, um sie zu prüfen. Entstanden ist eine umfangreiche Sammlung an historischen Dokumenten, die wenig Zweifel an der Skrupellosigkeit des SED-Regimes lassen.

Auf der Seite der Stadt Rostock gibt es eine Sammlung von 249 Originaldokumenten. Ihrer Veröffentlichung – zum Teil vor Ablauf der Geheimhaltungsfrist – stimmte die Bürgschaft der Hansestadt Rostock einstimmig zu, berichtet Schnauer. Sie sind mit einem besonderen Code im Netz zu lesen. „Ein Anwalt hat mich gewarnt, das gibt Ärger. Aber ich hab‘ geantwortet: Dafür habe ich ja Sie“, meint der Theologe wohlwissend, dass ein möglicher Prozess sein Budget übersteigen würde. 

Er veröffentlichte die Dokumente dennoch – mit Erfolg. Besonders freue ihn, dass sie auch heute noch auf Interesse stoßen. Am 5. Oktober und 9. November gibt er an der Volkshochschule Rostock zwei Lesungen zum Thema. Vielleicht wird bis dahin auch die bis dato verschobene Feier anlässlich der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes nachgeholt. Verdient hätte er es.

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