Bischof Tilman Jeremias predigt beim Gottesdienst der Wolhyniendeutschen
06. September 2020
Linstow/Greifswald. Beim Gottesdienst zum Museumsfest in Linstow (Landkreis Rostock) stellte Bischof Tilman Jeremias heute (6. September) das Schicksal von Millionen Menschen in den Mittelpunkt, die 1945 aus ihrer Heimat vertrieben wurden oder flüchten mussten. Der Bischof im Sprengel Mecklenburg und Pommern der Nordkirche predigte in einem Open-Air-Gottesdienst im Museumsdorf Linstow und begleitete die anschließende Kranzniederlegung am Gedenkstein für die Opfer von Flucht und Vertreibung. Seit 1993 zeigt das Museum in einer Dauerausstellung die leidvolle Geschichte und die Lebensweise der Deutschen, die ab Mitte des 19. Jahrhunderts in der polnisch-ukrainischen Grenzregion Wolhynien gesiedelt hatten und ab 1939 in das besetzte Polen umgesiedelt worden waren. Nach ihrer Flucht 1945 landeten viele von ihnen in Mecklenburg.
Flucht und Vertreibung waren Tabuthemen in der DDR
Bischof Jeremias sagte: „Für uns als Nachgeborene ist es wohl kaum vorstellbar, was die Vertreibung aus den deutschen Ostgebieten 1945 für unermessliches Leid mit sich gebracht hat. Innerhalb kürzester Zeit mussten die Menschen alles zurücklassen, was ihnen an ihrer Heimat lieb und wert war. Nur mit dem Nötigsten machten sie sich auf den Weg Richtung Westen, frierend im eisigen Winter, bedroht durch die nachrückende Rote Armee, mit völlig ungewissem Ziel.“ Im Westen angelangt, hätten sie nicht auf Verständnis hoffen dürfen: „Und dann die Ankunft hier in Mecklenburg! Alle waren beschäftigt mit der Not am Ende des Krieges und kaum jemand hatte ein Herz für die verzweifelte Lage der Vertriebenen. Zu DDR-Zeiten waren die Themen Flucht und Vertreibung tabu, und so kam zum Trauma des Verlusts der Heimat die Not, nicht darüber sprechen zu dürfen.“
Trost hätten die Wolhyniendeutschenim Glauben und ihren lutherischen Traditionen gefunden. „Viele von ihnen berichten, dass es gerade der christliche Glaube war, der sie gestärkt hat, auf der Flucht und beim schweren Start in Mecklenburg. Die kirchlichen Traditionen, das Lesen der Bibel, das Singen der vertrauten Choräle und das Gebet gaben neue Kraft und bewahrten die Erinnerung an die sehnlich vermisste Heimat“, sagte Tilman Jeremias.
Zum Linstower Museumsfest kommen Wolhyniendeutsche aus aller Welt
Seit zwei Jahren organisiert Anja Fischer, Flüchtlingspastorin im Evangelisch-Lutherischen Kirchenkreis Mecklenburg, die Gottesdienste in Linstow. Dass sie selbst wolhynische Wurzeln hat, erfuhr sie erst nach dem Tod des Großvaters. Damals machte sie sich auf Spurensuche: „Es war mir wichtig, das zu erforschen, weil ich wissen wollte, wo ich her komme.“ 250 000 Deutsche lebten Anfang des 20. Jahrhunderts in Wolhynien. „Polen, Ukrainer, Juden, Russen und Deutsche lebten dort friedlich miteinander bis zu den beiden Kriegen. Die alten Leute erzählen mir oft: ‚Bei uns war Europa‘.“ Daran möchte der Heimatverein, für den sie sich engagiert, anknüpfen: So hat man Kontakt aufgenommen mit ukrainischen Gemeinden und besucht sich gegenseitig. Beim Museumsfest treffen sich jedes Jahr Menschen mit wolhynischen Wurzeln aus der ganzen Welt. Anja Fischer erzählt: „Hier in Linstow feiern wir das weltweit einzige Treffen. Zum Museumsfest kommen sogar Menschen aus den USA und Kanada, wohin viele Nachfahren von Wolhyniendeutschen ausgewandert sind.“ Allerdings fiel das Fest dieses Jahr coronabedingt wesentlich kleiner aus.
Ernst Reimann: Als Kind mit fünf Geschwistern geflüchtet
Eine Fürbitte im Gottesdienst hielt der 1938 in Luzk/Wolhynien(heue Ukraine) geborene Ernst Reimann. Ein Jahr war er alt, als seine Familie aufgrund des Hitler-Stalin-Paktes in den damals sogenannten „Warthegau“ (nach der Besetzung Polens 1939) umgesiedelt wurde, in die Häuser der Polen, die von dort verschleppt worden waren oder auf ihren eigenen Höfen Zwangsarbeit leisten mussten. „Da waren in manchen Häusern die Öfen noch warm und das Essen stand auf dem Tisch, so unbarmherzig sind die Polen vertrieben worden. Mein Opa hat darüber geweint. Die Wolhynier waren sehr fromme Leute, und er verzweifelte an der Frage, wie Gott das zulassen könne.“ Reimann erinnert sich an Gottesdienste, die den ganzen Sonntagvormittag dauerten und bei denen sich das ganze Dorf traf. Im Januar 1945 dann ein erneuter Aufbruch: Die Mutter flüchtete mit sechs kleinen Kindern auf einem Pferdewagen, während der Vater als vermisst galt.
Da die Wolhynier überwiegend Landwirtschaft betrieben hatten, versuchten sie, nach Mecklenburg zu gelangen, wo es viel Ackerland geben sollte. Ernst Reimann erzählt: „Im Auffanglager in Malchow hieß es, wir könnten uns etwas suchen. Wer laufen konnte, machte sich auf den Weg. In Linstow hatte es eine Schnapsbrennerei gegeben, deshalb waren da fast 3000 Zentner Kartoffeln eingelagert. Als die das gesehen hat, sagten sie, hier hat die Not ein Ende, hier ziehen wir her.“ Über das Rote Kreuz und viele Briefe warb seine Mutter für Linstow, wo bald mehr als 70 wolhyniendeutsche Familien siedelten. Ihre Häuser bauten sie nach wolhynischer Weise aus Holz und ohne Nägel. Über die Wurzeln der Familie wurde in den Familien geschwiegen: „Da wurde nicht drüber gesprochen. Wir waren Umsiedler, weiter nichts“, erzählt Ernst Reimann. „Deshalb ist es so wichtig, dass es jetzt das Museum gibt und die Wolhynier sich hier einmal im Jahr treffen.“
Pfarrer Oliver Behre: Menschen wurden zum Spielball von Machtinteressen
Bei der Kranzniederlegung sagte der thüringische Pfarrer Oliver Behre, der sich als Mitarbeiter des Hilfskomitees der Evangelisch-Lutherischen Deutschen in Polen auch um die Lutherischen in der Ukraine kümmert: „Das Geschick der Menschen aus Wolhynien steht für das vieler anderer Menschen, die mit ihrem Leben zum Spielball von Machtinteressen und politischen Konflikten geworden sind. Wir sind dankbar dafür, dass aus dem Unheil der Geschichte nach über 65 Jahren Verständigung mit unseren europäischen Nachbarn und Versöhnung erwachsen ist. Auf diesem Weg wollen wir weiter gehen.“