Dietlind Jochims: Der Krieg hat uns Sicherheiten genommen, aber nicht die Hilfsbereitschaft
17. März 2022
Der Krieg in der Ukraine zwingt Frauen und Kinder zur Flucht in die europäischen Nachbarländer. Inzwischen sind auch viele Familien bei uns in Norddeutschland angekommen. Im Interview sagt Dietlind Jochims, Flüchtlingsbeauftragte der Nordkirche, was die Menschen nun brauchen – und welche Rolle die Kirche in der Krise spielt.
Die Schreckensnachrichten aus der Ukraine reißen nicht ab: Immer wieder gibt es Angriffe in Wohngebieten und auf zivile Einrichtungen, bei denen Menschen sterben. Die Evakuierung der umkämpften Städte kommt nur stockend voran. Wer kann, flüchtet in die europäischen Nachbarländer.
nordkirche.de: Frau Jochims, wie viele Geflüchtete sind denn inzwischen in Schleswig-Holstein, Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern angekommen?
Dietlind Jochims: Über die konkreten Zahlen wissen wir tatsächlich nichts Genaues. Das liegt daran, dass die Menschen aus der Ukraine visumsfrei einreisen können, sich also nicht sofort melden oder registrieren müssen.Viele sind erst einmal bei Verwandten oder Freunden untergekommen oder wurden privat aufgenommen.
Insgesamt sind in der Bundesrepublik ungefähr 160.000 Menschen von der Bundespolizei gezählt worden (Stand: 15 März). In Hamburg sind es etwa 10.000, von denen inzwischen die Hälfte registriert worden ist. Was wir sehen, ist, dass es bislang ein großes Ungleichgewicht zwischen städtischen Ballungsgebieten, wie Berlin und Hamburg, und den ländlichen Gebieten gibt. Vermutlich liegt das auch daran, dass die ukrainischen Communities eher in größeren Städten zu finden sind.
Dabei wird die Zahl der erwarteten Flüchtlinge beständig höher. Ich erinnere mich, dass in den ersten Tagen des Krieges gesagt wurde, Hamburg rechne mit etwa 7000 Geflüchteten. Diese Zahl ist bereits weit überschritten.
Die meisten werden außer Kleidung nicht viel dabei haben. Was brauchen die Menschen am dringendsten?
Die meisten sind vermutlich von einem Tag auf den anderen aufgebrochen und konnten nicht viel mitnehmen. Jetzt geht es vordringlich darum, einen Ort relativer Sicherheit und Ruhe zu finden.
Wir erleben eine große Hilfsbereitschaft, die sich vor allem in den ersten Tagen auf das Bringen von Kleidung und allen möglichen Haushaltsgegenständen erstreckt hat. Aber diese 'unsortierte' Abgabe von Hilfsgütern hat auch viele Kräfte gebunden. Manchmal ist es besser, zunächst einmal den Bedarf abzufragen. Was wird von den Menschen vor Ort benötigt? Was in Polen oder Rumänien? Was in der Ukraine?
Das heißt, Geldspenden sind im Augenblick genauso sinnvoll?
Ja, das ist auch die Bitte der Diakonie und der EKD. Sie klären in Zusammenarbeit mit den Partnern in Polen, wo ja derzeit sehr viele Flüchtlinge ankommen, was gebraucht wird und können es dann ganz gezielt anschaffen.
Polen hat ja schon mehr als 1,8 (Stand 16. März) Millionen Geflüchtete aufgenommen – das ist im Verhältnis weit mehr als Deutschland bislang hat. (Es entspräche etwa 4 Millionen bei uns in Deutschland). Und auch das Schicken von Hilfsgütern in die Ukraine muss bei der sich schnell verschlechternden Versorgungslage gut gesteuert werden. Da helfen Geldspenden sehr.
Die Diakonie mahnt an, dass die ukrainischen Kinder möglichst bald zur Schule und in die Kitas gehen sollen. Es gibt dafür aber derzeit kaum Personal gibt...
Das ist eine große Herausforderung. Aber sie muss nicht in den ersten Tagen der Ankunft geklärt werden. Viele sind noch in einer Phase, in der es um das Realisieren und Verarbeiten des Erlebten geht. Viele Geflüchtete sind auch noch nicht dort angekommen, wo sie mittel- oder längerfristig wohnen werden.
Es sind noch viele Fragen ungeklärt. Wie sieht es mit der gesundheitlichen Versorgung aus? Genauso wie bei der Kinderbetreuung werden hier Defizite sichtbar, die seit Jahren bestehen und nun verstärkt werden. So gibt es zum Beispiel auch sehr lange Wartelisten bei Psychologen und Psychiaterinnen.
Aber selbst unter den jetzigen Bedingungen wird auch in Schulen und Kitas die große Bereitschaft deutlich, willkommen zu heißen. Unbürokratisch wird zusammengetragen, wo wie viele Kita-Plätze frei sind und manches ukrainische Schulkind kommt erst einmal in die normal deutschsprachige Klasse, bis zusätzliche Sprachförderklassen eingerichtet sind.
Was kann Kirche tun, um bei der Bewältigung dieser Probleme zu helfen?
Die wenigsten Kirchenmitarbeiter sind Trauma-Therapeuten. Aber: Die große Stärke von Kirchengemeinden ist, dass sie Begegnungsraum sind. Das ist Kerngeschäft Kirche. Es gibt erste zweisprachige Friedensgebete. Und es gibt Treffpunkte für Geflüchtete wie etwa in der Kirchengemeinde Glücksstadt. Dort können die Menschen zusammenkommen und miteinander sprechen. Viele Ehrenamtliche sind jetzt schon aktiv, bieten Unterkünfte an und organisieren sich in Netzwerken, um gute Begleitung und Hilfestellungen leisten zu können.
Und was sind die Aufgaben der Flüchtlingsbeauftragten in den Kirchenkreisen?
Sie haben eine Art Scharnierfunktion zwischen Ehrenamtlichen, die sich engagieren möchten und Gemeinden. Sie sind Ansprechpartner für die Hauptamtlichen wie Pastoren, Verwaltungsleitende und Erzieherinnen, die sich jetzt auf die neue Situation einstellen wollen und dazu noch Fragen haben.
Zugleich haben sie auch eine Filterfunktion. Und diese Aufgabe ist nicht zu unterschätzen. Denn es kann bei einem ungefilterten ehrenamtlichen Engagement zu schwierigen Situationen kommen. Wir haben es schon erlebt, dass Freiwillige Geflüchtete aufgenommen haben, es ihnen dann nach kurzer Zeit aber einfach zu viel wurde. Wenn es vorher die Gelegenheit gibt, das noch einmal mit erfahrenen Kräften zu reflektieren, ist das für beide Seiten gut.
Können Sie konkrete Beispiele benennen, in denen die Hilfe bzw. Koordination der Hilfsangebote besonders gut läuft?
Ja, eine Gemeinde, die sich schon lange in der Flüchtlingsarbeit engagiert und wirklich viel Erfahrung hat, auch in Sachen Kirchenasyl, ist die Petrusgemeinde Schwerin. Die leisten tolle Arbeirt und haben derzeit auch schon mehrere ukrainische Geflüchtete aufgenommen.
Außerdem fällt mir Gemeinde Glückstadt ein. Hier gibt es eine besondere Historie: Die Kaserne in Glückstadt war 2015 zunächst Erstaufnahmestelle, heute befindet sich hier ein Abschiebegefängnis. Die Gemeinde selber möchte aber viel lieber ein Ort des Willkommens sein und tut auch eine Menge in diese Richtung. Inzwischen hat sie aber auch zweisprachige Liturgien veröffentlicht.
Flensburg ist ein gutes Beispiel für die Vernetzung von Hilfe, Stichwort „Flensburg hilft der Ukraine“. Hier gibt es die besondere Situation, dass sie Geflüchtete beherbergt, die nach Dänemark weiterreisen wollen, aber nicht über die Grenze gelassen werden. Dänemark hat die Massenzustrom-Richtlinie der EU nicht unterzeichnet. Deswegen dürfen ukrainische Menschen ohne biometrischen Reisepass dort nicht einreisen. So wird von Flensburg aus ein Shuttle-Verkehr zum Beispiel nach Kiel organisiert. Von Kiel aus können die Geflüchteten die Fähren kostenlos in andere nordische Länder wie etwa Schweden nutzen.
Nun werden vielerorts wieder Container errichtet, um den Menschen fürs erste ein Dach über dem Kopf zu geben. Ganz unumstritten ist diese Art der Unterbringung aber nicht...
Dazu ein Wort: Die Menschen, die 2015 als Geflüchtete kamen, blieben zum Teil drei Jahren in den Container-Unterkünften. Es ist gut, wenn wir das jetzt besser machen, wenn wir dazu gelernt haben und geflüchteten Menschen schneller guten Wohnraum anbieten können. Als Übergang allerdings sind Container vermutlich alternativlos.
Wir haben viel über ukrainische Flüchtlinge gesprochen. Doch was passiert eigentlich mit Russinnen und Russen, die aus ihrem Land fliehen, weil sie sich kritisch zum Krieg geäußert haben und nun mit Inhaftierung rechnen müssen?
Die Menschen, die Russland jetzt aus politschen Gründen verlassen, müssten vermutlich einen Asylantrag stellen. Es gibt erste Forderungen z.B. von Pro Asyl, die besagen, dass russischen Kriegsdienstverweigern Asyl gewährt werden muss. Das ist etwas, was wir in die öffentliche Debatte einbeziehen müssen: Was ist mit den Menschen, die sich in Russland gegen Putin stellen? Wie verhält sich der Westen zu den Menschenrechtsverletzungen, die ihnen drohen?
In diesem Zusammenhang gibt es noch mehr Fragen, die diskutiert werden: Wie begegnen wir der russisch-orthodoxen Kirche und dem Patriachen Kyrill, der ja nach wie vor ein Befürworter der russischen Politik ist? Wie können wir den ukrainischen Gemeinden in näherer Zukunft eine Heimat in unseren Kirchgebäuden anbieten?
Uns sind in den letzten Wochen viele Sicherheiten verloren gegangen. Heißt: Viele Einsichten, Auffassungen, Meinungen, die über Jahre selbstverständlich waren, sind plötzlich umgedreht worden. Die politischen Ereignisse haben eine Kehrtwende verursacht, deren Folgen vermutlich auch die Verantwortlichen selbst gar nicht so genau absehen können. `Kirchliche Friedensbewegung` klingt manchmal schön und gleichzeitig naiv und weltfremd in diesen Tagen. Aufrüstung klingt in vielen Ohren plötzlich ganz logisch und aus den Ereignissen folgend – und die Kritik ist relativ stumm.
Hat Kirche Ihrer Meinung nach die Aufgabe, eine kritische Diskussion zu eröffnen?
Ich glaube, eröffnen muss sie sie gar nicht. Die wird kommen. Aber Kirche hat die Verantwortung, ihre Stimme hören zu lassen und Begegnungsräume zu schaffen, in denen auch kontrovers diskutiert werden kann.
Und wenn es um Ihre Aufgaben als Flüchtlingsbeauftragte geht – was ist ihre Zielsetzung, was wünschen Sie sich?
Es würde mich wirklich sehr freuen, wenn es sich in den Köpfen festsetzt, dass fliehende Menschen unsere Unterstützung und Solidarität brauchen. Und zwar unterschiedslos.
Das Thema Flucht ist aber eines, das weit über die Ukraine hinaus geht. Das dürfen wir nicht vergessen. Wir stehen an der Seite aller Flüchtlinge. Und wir können so viel an Mitmenschlichkeit, Offenheit und Hilfsbereitschaft zeigen, das haben die letzten Wochen eindrucksvoll gezeigt. Diese gesellschaftliche Wärme und Solidarität wünsche ich mir als Grundhaltung für unser Zusammenleben.
Die Situation der ukrainischen Geflüchteten berührt uns scheinbar mehr als andere Konflikte. Woran liegt das?
Die geografische Nähe, die Unmittelbarkeit, die Aktualität. Es ist von allem etwas. Was viele bewegt, ist auch die Tatsache, dass so viele Kinder in so kurzer Zeit bei uns angekommen sind. Diese Bilder wecken Beschützerinstinkte.
Meine Hoffnung ist, dass wir diese Solidarität noch lange zeigen können, nicht nur punktuell. Dazu müssen wir unsere Kraft und Ressourcen gut einteilen. Und wir müssen gut informiert und organisiert bleiben.
Information ist das Stichwort. Inzwischen mehren sich Berichte über Menschen, die die Notlage von geflüchteten Frauen ausnutzen. Wie kann so etwas verhindert werden?
Es lohnt sich, mehr Zeit zu investieren, um die Hilfsangebote zu prüfen. Es ist immer ratsam, einen zweiten Blick drauf zu werfen. Also: Kennt man die Person im Ort? Sind die Ankommenden und die Helfenden registriert? Missbrauch und Ausnutzen kann so nicht verhindert werden, aber die Wahrscheinlichkeit verringert sich.
Herzlichen Dank für das Gespräch, Frau Jochims.