Er hilft, wenn Polizisten sich hilflos fühlen
23. Dezember 2020
Hanns-Peter Neumann ist Polizeiseelsorger in Mecklenburg-Vorpommern. Auch an Weihnachten tourt er durch die Reviere – mit Spenden für die Beamten und einem offenen Ohr für ihre Sorgen. Was dieses Jahr so besonders gemacht hat und wie er dabei helfen kann, Belastendes zu verarbeiten, erzählt er im Interview.
Nordkirche.de: Im Jahr 2020 waren einige Berufsgruppen durch die Corona-Pandemie besonders gefordert. Trifft dies auch auf die Polizeikräfte zu?
Hanns-Peter Neumann: Bei der Polizei gab es sehr schnell klare Konzepte, um das Risiko einer Infektion zu vermindern und einsatzbereit zu bleiben. Eine große Veränderung ist die der Dienstzeiten. Bislang gab es drei Schichten à acht Stunden. Jetzt ist es so, dass es zwei Zwölf-Stunden-Dienste gibt, um den kompletten Tag abzudecken. Eine dritte Gruppe ist in der Bereitschaft. Der Effekt ist, dass eine gesamte Dienstgruppe im Ernstfall ersetzbar wird, falls sie in Quarantäne muss. Das ist zwar ein übliches Notfall-Verfahren, geht über längere Dauer aber an die Substanz.
Zudem ist es wahrscheinlich schwierig, während der Einsätze auf Abstand zu gehen.
Ja, körperliche Nähe ist bei Festnahmen oder aber auch bei Hilfeleistungen nicht vermeidbar. Belastend ist in diesem Jahr aber auch, dass die Stimmung politisch aufgeheizt ist. So gab es in größeren Städten wie Rostock, Schwerin, Stralsund und Greifswald Versammlungen von Gruppen, die überhaupt nichts von Corona-Schutzmaßnahmen halten. Und deren Versammlungsrecht musste abgesichert werden. Aber natürlich gehört es zum Job, Demonstrationen zu begleiten und Menschen zu schützen, unabhängig davon, ob man die Meinung der Versammelten teilt oder nicht.
Wie können Sie helfen, wenn jemand sich durch einen Einsatz belastet fühlt?
Die Gründe, warum ein normaler Einsatz zu einem belastenden werden kann, sind unterschiedlich. Es gibt aber Faktoren, bei denen es wahrscheinlich wird: Wenn Kinder betroffen sind, es zu Schwerverletzten oder Toten gekommen ist oder wenn ein persönlicher Kontakt zu den Betroffenen besteht. In jedem Fall gilt ein Satz, der banal klingt, aber stimmt: "Reden hilft!" Wir Seelsorger versuchen deshalb nicht nur die Nachsorge zu machen, sondern schon präventiv die Weichen dafür zu stellen, dass die Seelsorge bei Bedarf auch in Anspruch zu nehmen.
Was heißt das genau?
"Ein Polizist hat keine Probleme, er löst sie" – dieser Satz hat das Selbstbild der Polizei über Generationen geprägt. Aber er ist eine gefährliche Stolperfalle, wenn es darum geht, bestimmte Dinge zu verarbeiten. In meinem Unterricht an der Fachhochschule und in den Dienststellen, aber auch in Gesprächen mit den Vorgesetzten versuche ich ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass es Situationen geben kann, die einen an die Belastungsgrenze bringen. Wir merken, dass dieser Ansatz bei Polizistinnen wirkt. Wir sehen aber auch, dass es in dieser Hinsicht noch ein starkes Gefälle zu den männlichen Kollegen gibt. Die harten Kerle wachsen nach und der Satz "das muss ein Polizist alleine schaffen" ist noch längst nicht vergessen.
"Hilflosigkeit ist bei Polizisten der Super-Gau"
Sie sprachen die Nachsorge an. Was genau ist bei ihr das Ziel?
Es gibt Einsätze, die Polizisten mit dem Gefühl der Hilflosigkeit zurücklassen. Und Hilflosigkeit ist bei Polizisten der Super-Gau. Ich bin in der Rolle des Begleitenden, der einen Perspektivwechsel anbieten kann – letztlich auch mit dem Ziel, dass jemand einsatzfähig bleibt. Als Beispiel: Eine junge Polizistin und ihr Kollegen verfolgen einen Straftäter im Auto, sie merken, dass die Situation brenzlig wird und drosseln das Tempo. Dennoch kommt der Wagen des Verfolgten von der Straße ab und prallt gegen einen Baum. Während der ältere Kollege den Rettungsdienst benachrichtigt und die Unfallstelle absperrt, stirbt der Mann in den Armen der Polizistin. Das war für sie schrecklich, weil sie sich machtlos gefühlt hat. Dabei hat sie in diesem Moment etwas ganz Entscheidendes getan: Sie hat einen Sterbenden nicht allein gelassen. Und war damit in jenem Moment wichtiger als ihr Kollege. Dieser Perspektivwechsel hat ihr geholfen.
Wie werden Sie in der Regel kontaktiert?
Manchmal von Vorgesetzten, häufig von Kollegen auf gleicher Hierarchie-Ebene. Jemand zieht sich vielleicht zurück, isst nicht mehr oder wird schnell aggressiv. Das sind Warnzeichen. Ich biete demjenigen dann ein Gespräch an. Wichtig ist: Auch wenn der Vorgesetze das Gespräch angeregt hat, ich fertige keinen Bericht oder Notiz darüber an. Das ist der große Unterschied zum Polizeipsychologen: Ich bin nicht in die Polizeihierachie eingebunden, sondern schaue sozusagen von außen drauf. Selbst wenn es um strafrechtlich relevante Dinge geht und jemand sich selber belasten sollte, bin ich an meine Schweigepflicht gebunden.
"Es braucht Leute, die Position beziehen"
Das Thema Straftaten innerhalb der Polizei hat in diesem Jahr durchaus für Wirbel gesorgt. Stichwort Rechtsradikalität. Wie wird das denn von den Einsatzkräften wahrgenommen und verarbeitet?
Man muss sagen, dass die Art der öffentlichen Diskussion nicht gerade dazu beigetragen hat, das Thema besser zu reflektieren. Die Polizeikräfte haben sie eher als eine persönliche Verletzung verstanden. Das hängt auch damit zusammen, dass sie zum Teil mit den US-Polizisten aus dem Fall George Floyd verglichen wurden, was zum einen völlig unverhältnismäßig ist und zum anderen sofort zu einer reflexartigen Abwehrhaltung und einem Rechtfertigungsdrang führt. Wir müssen uns nichts vormachen: Es gibt rechte Tendenzen innerhalb der Polizeikräfte. Dabei meine ich aber nicht solch prominente Fälle, in denen Beamte Waffen gehortet und ganz offensichtlich Straftaten begangen haben. Das Problem fängt weiter unten an. Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Ein Beamter hat mir einen WhatsApp-Verlauf mit rassistischem Inhalt gezeigt und mich gefragt, was er jetzt machen soll. Löschen? Die Gruppe verlassen? Dem Vorgesetzten melden? Ich habe ihn gefragt, ob ihm noch etwas anderes einfällt: Position beziehen, konkret aussprechen, dass hier was schief läuft und fragen, was der andere eigentlich für ein Problem hat – das braucht es.
Warum ist das so schwierig?
In der Polizei herrscht eine starke Loyalität der Gruppe gegenüber. Kameradschaft ist ja auch wichtig. Schließlich muss man sich im Einsatz auf den anderen verlassen können. Wer ausschert, hat Angst, im Ernstfall hängengelassen zu werden. Also neigt man in einer solchen Situation zu Verharmlosungen, stellt den Vorfall als Einzelfall dar oder sagt, dass die Polizei eben auch nur ein Spiegel der Gesellschaft ist. Aber da bin ich strikt und sage: Es gibt in der Gesellschaft auch Kriminelle – und das nehmen wir in der Polizei auch nicht hin, nur weil die Polizei eben ein Spiegelbild sei. Unser Ziel muss es sein, das Schweigen zu brechen. Einer muss den Anfang machen und ich sage: dann wird es eine Lawine geben.
Danke für das Gespräch.