Flüchtlingsbeauftrage der Nordkirche zu Afghanistan: Die Sorgen aushalten und die Politik bewegen
27. August 2021
Düsterer könnte die Lage in Afghanistan kaum sein: Die Bundesregierung und andere Weststaaten haben nach der Machtübernahme der Taliban inzwischen ihre Evakuierungsflüge eingestellt. Beobachter befürchten nun den Beginn einer Gewaltherrschaft mit bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Was also können wir tun, um zu helfen? Ein Interview mit Dietlind Jochims, Flüchtlingsbeauftragte der Nordkirche.
Es ist ein bitteres Ende für alle, die von Frieden und Freiheit träumten: Afghanistan ist nur wenige Tage nach dem Abzug der Alliierten fest in den Händen der militant-islamistischen Taliban. Nur einem Bruchteil der Ausreisewilligen gelang vor dem Ende der Luftbrücke die Flucht ins Ausland, während politisch noch immer um die Schuldfrage sowie die Verteilung der Schutzsuchenden gerungen wird.
Schutz bekommt, wer es raus schafft
nordkirche.de: Frau Jochims, Afghanistan wird seit diesem Monat faktisch von der Taliban beherrscht: Der Präsident ist außer Landes geflüchtet, das öffentliche Leben von der Taliban kontrolliert. Es wird befürchtet, dass jeder Protest – oder auch nur die frühere Zusammenarbeit mit westlichen Staatsorganen – mit Inhaftierung oder Hinrichtung geahndet wird. Sind damit die Voraussetzungen für ein Asylrecht in Deutschland gegeben?
Dietlind Jochims: Wer 'aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugungen oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe' nach Deutschland geflohen ist, erhält hier politisches Asyl. Vorausgesetzt, sie oder er konnte direkt hierher fliegen. Wenn der Fluchtweg über einen sicheren Drittstaat führte, erhalten diejenigen Schutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention.
Wer nicht persönlich verfolgt wurde, ist "subsidiär" schutzberechtigt, wenn ihr oder ihm im Herkunftsland ernsthafter Schaden droht, etwa durch Krieg oder Bürgerkrieg. Mir fällt spontan nicht ein, wer aus Afghanistan im Moment NICHT schutzberechtigt sein könnte.
Kürzlich Abgeschobene besonders gefährdet
Was bedeutet die Machtübernahme der Taliban für Menschen, die jüngst nach Afghanistan abgeschoben worden sind – oder deren Abschiebung bevor steht?
Für die nach Kabul Abgeschobenen ist die Gefährdung zusätzlich hoch – sie gelten oft als "verwestlicht". Auch wird allgemein angenommen, dass alle Abgeschobenen straffällig geworden seien. Im Familienkreis wird ihre erzwungene Rückkehr zudem häufig als "Versagen" bewertet. Viele von ihnen sind also nicht nur gefährdet, sondern auch isoliert.
Weitere Abschiebungen stehen im Moment nicht an. Wir hoffen, dass ein langfristiger Abschiebestopp beschlossen wird.
Was kann Kirche konkret tun, um den Menschen, die ausreisen wollen, zu helfen?
Im Moment leider sehr wenig. Die Evakuierungsaktionen sind beendet. Ob und wie zivile Ausreisen möglich sein werden, ist unklar. Wir können und müssen aber zweierlei tun: Die Politik drängen, die Priorität im Moment auf möglichen Schutz von Menschen zu legen, zum Beispiel durch Entbürokratisierung von Visaverfahren, durch Erweiterung des Kreises von nachzugsberechtigten Familienangehörigen, durch Sicherung der Aufenthaltsstati bereits hier lebender Afghaninnen und Afghanen. Und zweitens sind wir weiter da für die Menschen aus Afghanistan bei uns. In Solidarität und mit-Aushalten.
Wie schätzen Sie die Optionen ein, Menschen nach Beendigung der Evakuierungsflüge vor Ort helfen zu können? Wird eine humanitäre Hilfe vor Ort unter den Taliban überhaupt möglich sein?
Es gibt einige wenige Organisationen, die noch vor Ort sind. Vollkommen auf humanitäre Hilfe verzichten können auch die Taliban nicht. Wie Unterstützung aussehen kann, wird sich zeigen müssen. Im Moment sind private Unterstützungen, zum Beispiel durch Geldüberweisungen, nicht möglich.
Forderungen laut machen und Solidarität zeigen
Um den bereits Geflüchteten helfen zu können: Was braucht es jetzt am dringendsten – und welche Rolle spielen kirchliche Einrichtungen und Beratungsstellen dabei?
Solidarität. Dasein. Politische Forderungen laut machen. Konkret ist viel gute rechtliche Beratung notwendig, um hier lebenden Afghaninnen und Afghanen, deren Bleiberecht noch nicht gesichert ist, zu einem sicheren Status zu verhelfen. Neben Fragen eines möglichen Familiennachzugs sind dies Fragen, die im Moment rund um die Uhr an (kirchliche) Beratungsstellen wie Fluchtpunkt in Hamburg gestellt werden. Etliche Gemeinden haben bereits Friedensgebete abgehalten und nehmen die Situation mit in gottesdienstliche Fürbitten. Auch das ist wichtig.