"Glauben ist eigentlich etwas sehr Einfaches"
09. Juni 2022
Bei den Feierlichkeiten zum 10. Geburtstag der Nordkirche in Ratzeburg waren drei Brüder aus Taizé dabei. Sie erteilten zum Abschluss gemeinsam mit Landesbischöfin Kristina Kühnbaum-Schmidt einen Segen. Wir nahmen das zum Anlass, um mit Bischof Tilman Jeremias über Spiritualität und den besonderen Geist von Taizé zu sprechen.
Zum Jahreswechsel wird Rostock Zentrum des großen Taizé-Jugendtreffens sein. Das bedarf intensiver Vorbereitungen, schließlich soll es für die Teilnehmenden ein spirituelles Erlebnis sein, das noch lange nachwirkt.
Bischof Jeremias, sprechen Sie von Spiritualität oder Frömmigkeit?
Spiritualität ist gerade ein modernes Wort und aktuell ein Containerbegriff für ganz vieles. Dennoch mag ich den Begriff, weil er der großen Sehnsucht von Menschen Ausdruck gibt, Erfahrungen zu machen, die Boden unter den Füßen geben, die Sinn für ihr Leben stiften und Heimat stiften.
Christliche Spiritualität bezeichnet das, was für uns als Kirche den Kern ausmacht, das, was den Glauben transportiert: Gebet, Gottesdienst, Meditation. Da erlebe ich unsere Kirche manchmal so, dass sie droht, sich in vielen gesellschaftspolitischen Themen zu verlieren, und dann dieses Zentrum aus dem Blick verliert.
Frömmigkeit ist ein Ausdruck, der eng mit der Entstehung des Pietismus im 17. und 18. Jahrhundert verknüpft ist. Diese innerprotestantische Reformbewegung betont, dass der Glaube mich urpersönlich betrifft, und ich mir den selbst – das ist ein sehr evangelischer Gedanke – immer wieder neu erarbeite, in dem ich die Bibel lese und entsprechende Erfahrungen mache.
Ist der gegenwärtige Boom der Spiritualität für die Kirche positiv, oder schafft er eher eine neue Konkurrenzsituation?
Es ist beides. Es macht es uns leichter, weil wir auch aus Umfragen wissen, dass sehr viele Menschen an dieser Stelle auf der Suche sind und ein Bedürfnis haben gerade in Krisensituationen des Lebens, Halt zu bekommen. Da können wir als Kirche anschließen.
Und es macht es schwieriger, weil es sehr viele Angebote gibt, auch im Bereich der Esoterik und anderer Religionsgemeinschaften, die manchmal überzeugender als wir als Kirche aufzutreten scheinen. Aber das muss gar nicht nur negativ sein, wir sind ja auch Lernende: So haben wir – was Meditation angeht – sicher viel dem Zen-Buddhismus zu verdanken. Die riesige Popularität von Yoga zeigt uns, dass wir als evangelische Kirche zu verkopft sind und zu sehr das Wort und den Verstand in den Vordergrund gestellt haben…
…vielleicht auch das Kind mit dem Bade ausgeschüttet haben. Es gibt ja von den ägyptischen Wüstenvätern über die Mystikerinnen des Mittelalters bis hin zu einer christlichen Poesie von Ernesto Cardenal eine lange kirchliche Tradition an Spiritualität.
Wir haben unsere Tradition oft vernachlässigt. Gerade was die Mystik angeht, haben wir viele Anknüpfungspunkte, die uns heute helfen würden, diese Zentrierung auf das Wesentliche, das uns als Kirche aufgetragen ist, zu erreichen.
Ist christliche Spiritualität etwas Zusätzliches zu Alltag, Arbeit, Familie und Hobbys oder durchzieht sie den ganzen Tag?
Wieder beides: Spiritualität braucht Orte und Zeiten, die möglichst fest sind: einen Start am Morgen, einen kurzen Moment, wo ich innehalte, einen Text lese oder eine Kerze anzünde und still bin. Im Idealfall ist es auch etwas, das meinen Alltag durchzieht. Beispielsweise kann ich in einer Arbeitssituation auf den Kollegen, der mich nervt, anders eingehen, wenn ich mir in einem Minimoment bewusst werde, dass er ebenso wie ich ein geliebtes Geschöpf Gottes ist.
Gibt es einen Unterschied zwischen Spiritualität und spirituellen Erfahrungen oder Gotteserfahrungen?
Es wäre ein großes Missverständnis zu meinen, dass Spiritualität quasi messbar ist oder einen Leistungsgedanken in sich trägt nach dem Motto: Je herrlicher meine Erleuchtung ist, umso besser bin ich spirituell unterwegs. Spiritualität ist mit einem Wort des ehemaligen Benediktinermönchs, Pädagogen und Theologen Fulbert Steffensky immer auch „Schwarzbrot“ des Glaubens: Gottesdienste zu besuchen, die Bibel zu lesen, zu beten, ohne dass jedes Mal das ganz große Erleuchtungserlebnis dabei herumkommt.
Auch zur Meditation auf meinem Bänkchen zu knien, heißt nicht immer, dass ich super zur Ruhe komme oder eine Gotteserfahrung mache. Dennoch ist es eine große Hilfe, das als Ritual durchzuhalten, auch wenn es mühsam ist. Und in den Sternstunden des Lebens widerfährt mir auch das andere: Der Geist Gottes bewirkt, dass ich etwas ganz Besonderes erlebe, dass mich von oben bis unten durchschauert. Die Erinnerung an diese Sternstunden kann ich mir aufheben und davon zehren – mein Leben lang.
Spiritualität braucht Räume, in denen Stille möglich ist. Welche Rolle spielen dabei unsere Kirchengebäude?
Für mich als evangelischer Christ ist der Gottesdienst das Zentrum aller Spiritualität: gemeinsam das Wort Gottes zu hören, miteinander das Heilige Mahl zu feiern, zu beten und zu singen. Kirchen bieten den Raum dafür und eine Symbolik, die zu uns spricht, auch wenn wir nicht alles einordnen oder verstehen. Wir brauchen diese Gebäude mit hoffentlich offenen Türen, wo man sich zwischendurch reinsetzen kann, diese Stille spüren, einen Raum erleben, der über Jahrhunderte durchbetet worden ist und wo man sein Leben neu ausrichtet.
Moderne Angebote zu Spiritualität und auch die Frömmigkeit vergangener Jahrhunderte zeigen manchmal eine Tendenz Richtung Leistungssport. „Lebenslänglich besser“ hat Dorothee Markert ihre Studie über den Einfluss des Pietismus in der Kindererziehung bis heute genannt. Inwieweit ist Spiritualität aber auch etwas, bei dem andere mich mittragen, ein Fluss, in dem ich mich auch treiben lassen kann?
Auch hierzu möchte ich gerne den inzwischen 88-jährigen Fulbert Steffensky zitieren: Glaube ist immer etwas, was mein Persönliches weit übersteigt. Ich darf mich bergen in den Worten der Toten, die schon vor mir waren. Gerade die Worte der Heiligen Schrift, die Verse der Psalmen, in denen Menschen ihre Freude und ihre Not vor Gott gebracht haben, darf ich mir ausleihen und zu eigen machen für mein Gebet. Ich muss nicht alles selbst produzieren.
Das ist mir ein wesentlicher hilfreicher Gedanke: Ich bin als glaubender Mensch nicht alleine unterwegs. Es gibt eine ganz lange Glaubensgeschichte vor mir. Und auch mit mir synchron gibt es weltweit ganz viele Menschen, die ähnlich beten, ähnliche Sorgen haben, ähnliche Gedanken vor Gott bringen. Gerade wenn mir mal selbst die Worte fehlen und ich gar nicht weiter weiß, ist diese Gewissheit, eingebettet zu sein, eine Hilfe.
Im Wort Spiritualität steckt das lateinische spiritus: Atem und Geist. Seit klar ist, dass das nächste Europäische Jugendtreffen von Taizé in Rostock stattfindet, ist immer wieder die Rede vom besonderen „Geist von Taizé“. Haben Sie den inzwischen schon erlebt?
Der Geist von Taizé hat immer etwas Schlichtes. Es geht nicht um das Bombastische, Große, Überwältigende, sondern um etwas ganz Einfaches: Gesänge mit einer zentralen Aussage des Glaubens wie ‚Christus ist das Licht‘ werden mehrfach wiederholt. Viele Kerzen brennen, Schweigen ist wichtig, und es werden Abschnitte aus der Bibel gelesen.
Aus dem Archiv: Taizé-Treffen findet in Rostock statt
In Gesprächsrunden sprechen Jugendliche aus ganz Europa über elementare Erfahrungen des Glaubens miteinander, nicht über große theoretische Gebäude. Glauben ist eigentlich etwas sehr Einfaches und nicht so kompliziert.
Ist dies das Geheimnis, das so viele gerade junge Menschen anzieht?
Es ist diese Form, die ich sofort wiedererkennen kann und wo ich mich schnell beheimatet fühlen kann. Die Gesänge sind so eingängig, dass ich mich schnell einfinden kann, wenn das angestimmt wird. Ein Taizélied wie ‚Laudate omnes gentes‘ ist über alle Konfessionsgrenzen hinweg bekannt. Wenn ich das drei-, viermal singe, komme ich im Idealfall in so eine Haltung, die mich öffnet dafür, das Wort Gottes zu hören.
Eine Form, die auch in der verstandesbetonten protestantischen Kirche erlaubt, mit dem ganzen Körper zu beten?
Das Körperliche ist wichtig. Die Brüder tragen schlichte Gewänder und sitzen in den Andachten auf Gebetsbänken aufgerichtet auf dem Boden. Die Unterbringung und Versorgung in Taizé sind schlicht. Es ist ein einfacher Lebensstil, der auch bedeutet: Der Weg zu Gott ist nicht verkünstelt oder kompliziert, sondern ein einfacher, indem ich mich besinne, in die Stille gehe, wobei Gesänge und Lesung mir helfen, mich auf Gott zu konzentrieren.