Gesprächsreihe „Nikolaiquartett“ 

Podiumsdiskussion: Bischof Jeremias zur „Spaltung der Gesellschaft“

Diskutierten beim Nikolaiquartett: v.l. Bischof Tilman Jeremias, Moderatorin Renate Heusch-Lahl, DGB-Vertreter Fabian Scheller und Jochen Schmidt von der Landeszentrale für politische Bildung.
Diskutierten beim Nikolaiquartett: v.l. Bischof Tilman Jeremias, Moderatorin Renate Heusch-Lahl, DGB-Vertreter Fabian Scheller und Jochen Schmidt von der Landeszentrale für politische Bildung. © Annette Klinkhardt

10. Juni 2022 von Annette Klinkhardt

„In einer Zeit der zunehmenden gesellschaftlichen Spaltung ist es die Aufgabe von uns als Kirche, Gesprächsräume zu öffnen.“ Dies sagte Bischof Tilman Jeremias kürzlich beim Gesprächsformat „Nikolaiquartett – Brennende Themen, verschiedene Sichtweisen“ in der Rostocker Kirche St. Nikolai.

Solch einen Gesprächsraum öffnen seit ein paar Monaten die Rostocker Innenstadtgemeinden mit dem „Nikolaiquartett“. Das abendliche Format sei entstanden als Reaktion auf die Montagsdemos und die sich zunehmend verhärtenden Positionen zu Corona und den Maßnahmen, erzählt Mitveranstalter Pastor Reinhard Scholl. Seit März haben Juristen, Ärztinnen, Theologen, eine Schauspielerin oder auch Jugendvertreterinnen mit Besucherinnen und Besuchern diskutiert über Themen wie „Freiheit“ und „Selbstbestimmung“.

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Nikolaikirche in Rostock© iStockphoto, RicoK69

„Spaltung der Gesellschaft“ war das Thema der letzten Veranstaltung vor der Sommerpause. Moderiert von Renate Heusch-Lahl diskutierten neben dem Bischof im Sprengel Mecklenburg und Pommern der Nordkirche der Direktor der Landeszentrale für politische Bildung MV, Jochen Schmidt, und Fabian Scheller, Geschäftsführer des DGB für die Region Rostock und Schwerin.

Plädoyer für mehr Gelassenheit

Für mehr Gelassenheit in der Debatte um eine „Spaltung der Gesellschaft“ plädierte der Politologe und Historiker Jochen Schmidt: „Das sind ganz normale Erfahrungen, die wir gerade mit der Demokratie machen. Wir müssen als Gesellschaft aushalten, dass Menschen mit einer anderen Meinung als wir demonstrieren; nicht alles, was passiert, muss uns passen.“ Es sei auch eine „normale Erfahrung in einer Demokratie“, in einer Gesellschaft einmal nicht zum Mainstream zu gehören, sondern zu einer Minderheit. Fabian Scheller vom DGB meinte, die Pandemie habe seit langem bekannte Schieflagen wie eine schlechte Bezahlung und hohe Belastung von Pflegekräften nur ans Licht gebracht.

„Zerreißprobe für Gesellschaft und Kirche“

Wenn man hierzulande im Gegensatz zu den USA auch noch nicht von einer „Spaltung“ sprechen könne, so sei die Coronazeit doch eine „Zerreißprobe für Gesellschaft und Kirche“. Das hob Bischof Jeremias hervor: „Bei uns stehen sich nicht nur gesellschaftliche Gruppen mit unterschiedlichen Ansichten unversöhnlich gegenüber, sondern es gehen Risse quer durch Familien. Jahrzehntelange Freundschaften sind über dem Thema Impfen zerbrochen, Kinder sprechen nicht mehr mit ihren Eltern.“

Er räumte ein, dass es selbst innerhalb von Kirchengemeinderäten und der Kirchenleitung zeitweise schwierig gewesen sei, „den christlichen Frieden zu wahren“: „Als Kirche haben wir den Anspruch, alle Menschen willkommen zu heißen – unabhängig davon, welche Meinung und auch welchen Impfschutz sie haben. Dies mit dem Schutz der Menschen vor Ansteckung auszubalancieren, hat uns vor sehr große Herausforderungen gestellt.“

Große Welle der Solidarität und Hilfsbereitschaft

Zum kompletten Bild gehöre jedoch auch eine positive Seite: „Jenseits aller Debatten haben wir eine große Welle der Solidarität und Hilfsbereitschaft erlebt. In unseren Kirchengemeinden entstanden quasi über Nacht Nachbarschaftshilfen wie Einkaufsdienste, Telefone sind heißgelaufen. Es gab tägliche seelsorgerliche Impulse über das Handy oder mit aufmunternden Briefen. Gerade auf den Dörfern hat man sich gut im Blick behalten.“

Anders sei es zumindest im ersten Jahr der Pandemie mit der institutionellen Seelsorge gewesen: „Ein ganz wesentlicher Aspekt von Kirche ist die Seelsorge, also für Menschen aktiv da zu sein. Da hat es Situationen gegeben, die noch im Nachhinein schwer zu ertragen sind, etwa dass Menschen alleine im Heim gestorben sind, dass Kinder nicht bei ihren sterbenden Eltern sein durften, dass Angehörige und Freunde sich nicht von ihren Lieben verabschieden durften, weil die Zahl bei Beerdigungsgottesdiensten stark beschränkt war. Menschen sterben nicht nur am Virus, sondern auch an Einsamkeit. Das werden wir noch einmal selbstkritisch prüfen müssen und für die Zukunft unbedingt beherzigen.“

Die Gesprächsreihe „Nikolaiquartett“ soll im Herbst fortgeführt werden.

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