Rückblick auf Corona-Zeit: "Waren nicht nah genug bei den Menschen"
31. Januar 2024
Fast 100 Menschen waren der Einladung von Bischof Tilman Jeremias zum Austausch in das Kolping-Tagungshaus Salem in Malchin gefolgt. Der Titel der Veranstaltung lautete: „Corona und Kirche – was bleibt?“.
Nach Ansicht von Bischof Tilman Jeremias hat die Kirche während der Corona-Zeit auch Schuld auf sich geladen: „Wo wir als Kirche Menschen ausgegrenzt haben und in einer abfälligen Weise mit ihnen umgegangen sind, da sind wir schuldig geworden. Davon bin ich überzeugt. So können wir innerhalb unserer Kirche nicht miteinander umgehen,“ sagte er am vergangenen Wochenende.
Der Bischof betonte:
Es gibt Punkte, wo wir als Kirche nicht nahe genug bei den Menschen waren, wo wir als Kirche in der Coronazeit versagt haben. Das haben wir gehört etwa von der Doberaner Suppenküche oder von der Krankenhausseelsorge.
Wir hätten mit größerem Nachdruck darum kämpfen müssen, dass Menschen nicht allein sterben und in Pflegeheimen und Krankenhäusern ohne Begleitung sind“.
Viele Stimmen kamen zu Wort
Zunächst erinnerten Menschen auf dem Podium an die Situation während der Pandemie. Im Anschluss konnte jeder Teilnehmende am Mikrofon von seinen Erfahrungen berichten.
"In der Kirche müssen nicht alle die gleichen Ansichten haben"
Zum Info-Portal der Nordkirche: Coronavirus - Tipps und Informationen
Der Streit um die Maßnahmen und die Impfung habe durch viele Familien einen Riss gehen lassen und auch die Kirche vor eine Zerreißprobe gestellt, erklärte Jeremias. Bei vielen seien tiefe Verletzungen entstanden, „und das kann uns als Kirche nicht egal sein“.
Die Kirche sei auch kein Gesinnungsverein, in dem alle die gleichen Ansichten haben müssten: „Dass wir in unseren Gemeinden eine Spannbreite von ganz links bis ganz rechts haben und pro und contra Coronamaßnahmen, das gibt es in unserer Gesellschaft nicht oft."
Bischof Jeremias weiter: "Viele gesellschaftliche Gruppen funktionieren in ihrer Bubble, wo sie mit gleicher Meinung unterwegs sind. Wir sind eine Gemeinschaft von Menschen, die sehr verschieden sind und das von Anfang an.
Die ersten Christen haben damals nicht weniger diskutiert als wir heute. Aber sie haben zusammen gebetet und das Mahl gefeiert und sich dann überlegt, wie können wir unsere Streitpunkte lösen.
Pastor: "Gelungen, Gemeinde zusammenzuhalten"
Pastor Michael Giebel aus Altentreptow bei Neubrandenburg sagte, ihm sei es gelungen, seine Gemeinde trotz unterschiedlicher Positionen zum Umgang mit Corona zusammen zu halten und der Zeit positive Erfahrungen abzugewinnen.
Aber auch seine „Tiefpunkte“ benannte er: „Ungeimpfte wurden als Verräter an der Nächstenliebe gebrandmarkt“, beschrieb er mit ruhiger Stimme. Man habe sie als verantwortungslos hingestellt, auch wenn sie vielleicht vorsichtiger agiert hätten als Geimpfte, die das Virus ebenfalls verbreiten konnten.
Entscheidungsfreiheit wichtig
„Und man hat sie pauschal in die rechte Ecke geschoben“, sagte Giebel. Wer etwa gegen die geplante Impfpflicht demonstrieren wollte, habe schnell im Verdacht gestanden, sich den „Rechten“ anzuschließen. Ähnliche Kritik äußerte die Ribnitzer Pastorin Susanne Attula.
Schwerstkranke und Alte blieben allein
Zur Website der Krankenhausseelsorge in der Nordkirche
Weitere Punkte kamen in der friedlich geführten Debatte zur Sprache: Kirche habe zugelassen, dass Schwerstkranke und Alte allein sterben mussten, weil Corona-Maßnahmen selbst auf Palliativstationen und im Hospiz durchgezogen wurden.
„Warum habt Ihr dazu geschwiegen?“, fragte der Krankenhausseelsorger Leif Rother, der in fünf Krankenhäusern der Müritzregion arbeitet.
Andere erinnerten daran, dass kirchliche Vertreter die Notwendigkeit der Seelsorge in der Corona-Zeit durchaus zur Sprache gebracht und unbürokratische Lösungen gefunden hätten.
Kirche muss Räume für Debatten schaffen
Rother kritisierte zudem: Elementare Persönlichkeitsrechte der Menschen seien verletzt worden, und die Kirche habe anders als zu Zeiten der friedlichen Revolution keine Räume geboten, um sachliche Argumente breit zu diskutieren.
Mehr erfahren zum Fortbildungs- und Beratungsangebot "Kirche stärkt Demokratie"
Karl-Georg Ohse, Leiter des Projekts „Kirche stärkt Demokratie“, hielt dagegen: Zumindest einzelne Debatten-Angebote im Raum der Kirche habe es gegeben, etwa ein Online-Forum seines Projekts und das Nikolai-Quartett in Rostock. „Gerade von Seiten der Corona-Skeptiker kamen beim Quartett aber die immer selben demokratiefeindlichen Parolen.“
Schwierige Entscheidungen für Leitende
Matthias Jehsert, Pastor aus Retzin im Pommerschen Evangelischen Kirchenkreis, bedauerte, dass die Kirche zu schnell bereit gewesen sei, auf das Abendmahl zu verzichten: „Ich erlebe gerade in Grenzsituationen, wie entlastend Sakramente sein können“, sagt er, „sie erinnern daran, dass es letztlich nicht auf menschliches Handeln ankommt, sondern auf Gottes.“
Auch Dilemmata der Leitenden wurden in der Austauchschrunde deutlich. Etwa, Entscheidungen treffen zu müssen, die den einen recht zu geben scheinen - während man einzelne Argumente anderer vielleicht teilt.
„Eine eigene Meinung zu haben, heißt auch nicht, dass ich sie in einer Leitungsfunktion zur allgemeinen Maxime machen kann“, erklärte Wulf Schünemann, der zu Corona-Zeiten als Propst im Dienst war.