Praxis ohne Grenzen: Wenn Menschen durchs Raster fallen
02. September 2021
Auch in Deutschland gibt es Menschen ohne Krankenversicherung, die deshalb nur eingeschränkt medizinisch versorgt werden. In Neumünster wurde jetzt eine neue "Praxis ohne Grenzen" eröffnet. Vor zehn Jahren startete das Projekt ganz in der Nähe.
Der Raum ist klein: Ein Schreibtisch, eine Liege, ein Schrank und ein EKG-Gerät passen gerade so hinein. "Das hat uns ein befreundeter Arzt geschenkt", erzählt Johannes Kandzora, niedergelassener Kinder- und Jugendarzt und Mitglied im Praxisnetz Neumünster. Er steht in der neuen "Praxis ohne Grenzen" im Familienzentrum der Diakonie Altholstein.
"Wir erreichen nicht alle"
Ab kommender Woche sollen hier jeden Mittwoch von 15 bis 17 Uhr Menschen versorgt werden, die keinen ausreichenden Krankenversicherungsschutz haben. "Wir haben zwar ein ultrahohes Niveau der medizinischen Versorgung in Deutschland, aber wir erreichen nicht alle", sagt Kandzora, der von rund 20 Kolleginnen und Kollegen unterstützt wird.
"Es gibt vielfältige Gründe aus der Krankenversicherung rauszufallen", erläutert Carsten Hillgruber (SPD), Erster Stadtrat von Neumünster. Das passiere beispielsweise Selbständigen, die ihre Krankenkassenbeiträge aus wirtschaftlicher Not nicht mehr zahlen könnten. Es gebe aber auch ganz andere Gründe. "Wir gehen davon aus, dass ein relevanter Anteil der Bevölkerung in Neumünster nicht versichert ist", sagt Hillgruber. Das treffe neben Menschen in wirtschaftlicher Not auch Arme und Menschen mit geringer Bildung, ergänzt Kandzora.
Sozialberatung während der Sprechzeiten
Um auch die Ursachen einer fehlenden Krankenversicherung zu bekämpfen, wurde entschieden, während der Sprechzeiten auch eine Sozialberatung anzubieten - im Zimmer schräg gegenüber des kleinen Praxisraums. "Eine gut vernetzte Mitarbeiterin von uns wird versuchen, die Menschen wieder in eine Krankenversicherung zu bringen oder sie wenn nötig auch an die Schuldner- oder Migrationsberatung weiterzuleiten", erläutert Diakonie-Bereichsleiterin Andrea Dobin.
Diese begleitende Sozialberatung unterscheidet die neue "Praxis ohne Grenzen" von den anderen in Schleswig-Holstein. 2010 gründete Uwe Denker, Facharzt für Allgemeinmedizin und Kinderheilkunde im Ruhestand, als Pilotprojekt die erste "Praxis ohne Grenzen" in Bad Segeberg. 2020 erhielt er das Bundesverdienstkreuz für seine Arbeit. Mittlerweile gibt es in Schleswig-Holstein weitere Praxen in Stockelsdorf, Preetz, Husum, Rendsburg und Flensburg. Bundesweit sind sie auch in Hamburg, Wiesbaden, Solingen oder Remscheid zu finden.
Die Patienten von Uwe Denker in Bad Segeberg sind oft ehemalige Selbstständige und Kleinunternehmer, die pleite gegangen sind. Die Liste der Berufe ist lang: Stahlbauingenieur, Bauzeichnerin, Tischlermeister, Friseurin, Schausteller oder Modellschneiderin. Wenn jemand seine Versicherungsbeiträge nicht mehr bezahlen kann, übernimmt die Kasse die Kosten nur noch in akuten Notfällen, bei starken Schmerzen oder für eine Geburt. Denker: "Wenn jemand aber Diabetes oder Bluthochdruck hat, werden die notwendigen Medikamente nicht bezahlt."
Ärzte arbeiten ehrenamtlich
Alle Ärzte der "Praxen ohne Grenzen" arbeiten ehrenamtlich, die Kosten für Facharztbehandlungen, Krankenhausaufenthalte oder Medikamente werden durch Kooperationen mit anderen Ärzten oder Kliniken getragen oder durch Spenden finanziert. In Neumünster beteiligt sich die Stadt mit 20 Prozent an den Kosten der Praxis, das Sozialministerium trägt die restlichen 80 Prozent. Für Medikamente oder weiterführende Behandlungen ist die Praxis jedoch auch auf Spenden angewiesen.
"Unser Ziel ist es, alle Menschen in Deutschland in eine Krankengrundversicherung zu bringen", erläutert Denker. Da die Chance der Umsetzung aber derzeit begrenzt seien, konzentriere man sich jetzt auf eine bedingungslose Krankenversicherung für Kinder. Sie müssten unabhängig vom Status ihrer Eltern krankenversichert sein, fordern Denker und die anderen "Praxen ohne Grenzen" in Schleswig-Holstein schon seit Jahren.