Steen: "Wir haben den klaren Auftrag, Gemeinschaft zu ermöglichen und den Menschen ein offenes Ohr zu schenken“
19. Juni 2024
Wie können wir jeder einzeln und als Gesellschaft Demokratie leben? Und: Was verstehen wir unter Teilhabe? Unter diesen Fragestellungen hat die Nordkirche zu ihrem diesjährigen Sommerempfang Vertreter:innen aus Politik und Gesellschaft eingeladen. Impressionen und Kernaussagen des Empfangs haben wir hier für Sie zusammengefasst.
75 Jahre Grundgesetz, landesweite Demonstrationen für Vielfalt und Gerechtigkeit im Vorfeld der Europawahl, Aktionen gegen Rassismus und Extremismus: Die vergangenen Monate waren geprägt durch intensive Debatten und Proteste.
"Gott hat alle mit gleicher Würde ausgestattet"
Zum Sommerempfang der Nordkirche im Schleswiger Dom haben wir daher in einem neu entwickelten Talk-Format gefragt: „Was braucht es für eine gelingende Demokratie?“ Und: „Wie können wir jeder einzeln und als Gesellschaft Demokratie leben?“ Sowie „Was verstehen wir unter Teilhabe?“
Erschienen waren rund 170 Gäste aus Politik und Gesellschaft auf Einladung der Nordkirche. Schon in ihrer Begrüßung mahnte Präses Ulrike Hillmann an, Gewalt in jeder Form zu ächten. Stattdessen solle Mitmenschen Achtung, Wertschätzung und Mitgefühl entgegengebracht werden. Vor allem Kinder bräuchten bedingungslose Liebe.
Es genügt, ein Mensch zu sein. Gott hat uns alle mit gleicher Würde und Dignität ausgestattet. Daraus ergibt sich für uns alle die Verantwortung, unsere Mitmenschen als Ebenbild Gottes zu akzeptieren und uns ihnen gegenüber auch so zu verhalten. Präses Ulrike Hillmann
Wir müssten jederzeit und an jedem Ort für unser Grundgesetz und die darin verankerten Menschenrechte eintreten, so Hillmann. So trage man zum Frieden bei – im Großen wie im Kleinen.
In ihrer Andacht verband Bischöfin Nora Steen das Thema Demokratie mit den vielen kleinen Dingen, die jeder von uns erlebt und damit, dass Gott überall dort ist, wo wir es kaum vermuten.
Kirche hört die Sorgen der Menschen
"Von solchen Orte haben wir viele – nicht nur in der Diakonie und in den Kirchengemeinden. Auch in den freiwilligen Feuerwehren oder den Bündnissen gegen Rechts. Aber – wir brauchen noch viel, viel mehr. Denn viele Menschen fühlen sich eben NICHT gesehen. Einsamkeit ist ein wachsendes Thema – und das vor allem bei den jungen Menschen", so Steen.
Sich gesehen fühlen – mit der eigenen Geschichte. Wir als Kirche können hier viel anbieten. Und ich bin der Überzeugung: Wir haben den klaren Auftrag, genau das zu tun. Gemeinschaft ermöglichen. Menschen ein offenes Ohr schenken, ihnen zuhören. Sie ansehen – ohne Ansehen von Status, Hintergrund oder Geldbeutel. Das klingt klein. Aber das ist es nicht. Bischöfin Nora Steen
Genauso beginne das, was in der Bibel mit Recht und Gerechtigkeit beschrieben ist, führte Bischöfin Steen weiter aus. Sie sei überzeugt: So beginne eine demokratische Gesellschaft. "Im Kleinen bildet sich das Große ab."
In einer Demokratie zählt der Dialog
Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther mahnte in seinem Grußwort, die Errungenschaften unsere weltoffene, demokratische und friedliebende Gesellschaft wertzuschätzen und zu verteidigen. Er zog eine Parallele zwischen dem Anliegen des Sommerempfangs und gelebter Demokratie: Sich zusammenzusetzen und im Gespräch zu bleiben. Das sei mühsam, so der Ministerpräsident, aber der einzige Weg.
Natürlich müssen wir uns um jede einzelne Seele kümmern, die von diesem Weg abgekommen ist. Und das ist, glaube ich, ist unser gemeinsamer Auftrag als Demokratin und Demokrat. Ich finde, es gehört dazu, Gespräche zu führen und für Demokratie zu werben. Wenn wir das Anwenden, dann ist sehr, sehr viel gewonnen. Ministerpräsident Daniel Günther
Weiter sagte er: "Ich bin stolz darauf, wie viele Menschen in den vergangenen Monaten aufgestanden sind und Gesicht gezeigt haben für Demokratie. Wie viele Verbände sich zurückgenommen und gesagt haben, jetzt ist die Zeit, und wir wollen zeigen, dass wir für Demokratie sind. Das macht mich wahnsinnig stolz, dass es diese Menschen gibt, und wir sind mehr als die anderen."
Den Impulsvortrag beim Sommerempfang hielt Claudine Nierth. Sie ist Bundesvorstandssprecherin und Gründungsmitglied von „Mehr Demokratie e.V.“.
Demokratie muss trainiert werden
Bei ihrem Redebeitrag zog sie einen Vergleich: Jeder Mensch habe demokratische Veranlagungen. So wie er auch Muskeln habe. Doch wenn diese nicht genutzt und trainiert würden, blieben sie schlaff. Nierth ist überzeugt: Die Fähigkeit zuhören zu können, ist so ein Muskel.
Sie selbst habe mit 16 Jahren angefangen, sich für die Demokratie zu interessieren. "Es begann 1983. Als ich meine Hände jeweils in der Hand einer anderen Hand, in einer 108 Kilometer langen Menschenkette stand, mitten in der schwäbischen Alp zwischen Ulm und Stuttgart. Ich stand da, mit 300.000 anderen Menschen, sichtbarer Widerstand gegen die Stationierung der atomaren Sprengkörper, der Pershing II Raketen, von den US-Amerikanern in Süddeutschland", erinnert sie sich.
Als der Hubschrauber über uns die Durchsage machte 'Jetzt ist die Kette geschlossen', begriff ich 'wenn ich jetzt loslasse, hat die Kette eine Lücke!' Das war der Moment, wo ich spürte, dass ich ein Glied in der Kette war, auf dass es auch ankam. Bis heute will ich keine Lücke sein in der Gesellschaft, sondern ein Glied sein möchte, auf das es auch ankommt. So wie es auch auf Sie ankommt. Claudine Nierth, Bundesvorstandssprecherin von „Mehr Demokratie e.V.“
Im Mittelpunkt, der von Bischöfin Nora Steen moderierten Diskussionsrunde stand zunächst die Frage, warum insbesondere junge Menschen sich von der Demokratie abwenden. Ministerpräsident Daniel Günther sah neben den aktuellen Krisen auch die Erfahrungen der Corona-Krise als eine Ursache.
Er warb dafür, im Diskurs die Perspektive des anderen einzunehmen. Es sei bereichern, wenn sich Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungen und Auffassungen an einen Tisch setzen und miteinander reden.
Appell für eine starke Jugendarbeit
Claudine Nierth brachte einen „Demokratieführerschein“ ins Gespräch und forderte in Anspielung auf die zurzeit laufende Fußball-EM, dass mehr Menschen „runter vom Sofa aufs Spielfeld“ kommen sollten.
Franz Fischer vom Kreisvorstand Bündnis 90 / Die Grünen Kiel wünschte sich mehr Veranstaltungen wie diesen Sommerempfang, da hier Menschen mit verschiedensten Erfahrungen zusammenkommen. Er warb dafür, dass die Kirche auch weiterhin ihre Jugendarbeit unterstützt und somit Demokratiearbeit leistet.
Ich glaube, das ist ein super Ansatz dieses Sommerempfangs, verschiedene Menschen zu treffen. Das ist die Aufgabe der Kirche als gesellschaftlicher Akteur. Wir brauchen eine Gesellschaft, zu den Menschen kommt. Natürlich weiß ich, dass die Kirche verantwortungsvoll mit ihrem Geld umgehen muss. Doch sparen Sie nicht am Geld für Jugendarbeit. Die Kirche ist eine gesellschaftliche Akteurin. Und sie ist eine Akteurin, die zu den Menschen kommt - und für die Menschen da sein wird. Franz Fischer, Kreisvorstandsmitglied von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kiel
Er hoffe, dass Kirche das Möglichste tue, um in dieser Beziehung voranzugehen. Wörtlich sagte er: "Wir brauchen eine Gesellschaft, die zu den Menschen kommt, in der es für Arbeit Gehälter gibt, die Familien und jungen Menschen eine Perspektive bieten."