Sylter Pastorin nimmt ehemaligen Nazi-Bürgermeister unter die Lupe
25. November 2014
Westerland. Als brutaler „Schlächter von Warschau“ ist Heinz Reinefarth in die Geschichte eingegangen. Nach dem Krieg wurde der SS-Gruppenführer Bürgermeister auf Sylt, ohne jemals verurteilt zu werden. Auf der Insel schwieg man seine Nazi-Vergangenheit tot – bis Pastorin Anja Lochner und ihre Kirchengemeinde Westerland nachforschten.
„Diese Pfaffen gehören an die Wand gestellt“, musste Anja Lochner in einem an sie adressierten Brief lesen. Gegen den Verfasser erstattete sie Anzeige. Die Westerländer Pastorin hat viel Post bekommen in diesem Jahr. „Es waren abscheuliche Briefe dabei“, sagt sie. „Einer schrammte juristisch genau an der Holocaust-Leugnung vorbei, der Absender – ein Professor Doktor – kannte sich offensichtlich gut aus“. Unter den Mails und Briefen aus ganz Deutschland seien aber auch sehr positive Reaktionen gewesen, betont Lochner.
Eine E-Mail ließ die Pastorin nicht mehr los
Mit einer E-Mail aus Polen hatte es begonnen – Anfang 2013. Anja Lochner wurde gefragt, ob sie die Geschichte des ehemaligen Westerländer Bürgermeisters Heinz Reinefarth kennen würde und ob sie sich nicht um Versöhnungsarbeit kümmern wolle. Lochner, die selbst nicht von der Insel stammt, sagt: „Ich wusste schon, dass er bei der SS war. Aber ich fühlte mich als Pastorin nicht zuständig für die offizielle Aufarbeitung. Reinefarth war Bürgermeister, kein Pastor“. Doch die E-Mail ließ sie nicht mehr los. Sie wandte sich an Propst Kay-Ulrich Bronk und an den Kirchengemeinderat. „Mir wurde Mut gemacht, das Thema anzugehen.“
Daraufhin stellte die Kirchengemeinde einen Antrag an die Stadt: „Wir wollten, dass sich auf politischer Ebene mit Reinefarths Geschichte auseinandergesetzt wird“. Das Rathaus reagierte: Ein Arbeitskreis zur Aufarbeitung wurde ins Leben gerufen. „Wir wollten hier in Westerland einen Ort der Erinnerung an die Opfer schaffen“, sagt Lochner. „Viele von ihnen sind namenlos geblieben, weil sie verbrannt sind – und weil ihre kompletten Familien ausgelöscht sind.“
Am 1. August 1944 hatte die nationalpolnische Heimatarmee in Warschau einen Aufstand gegen die deutschen Besatzer entfacht. Unter Kommando Heinz Reinefarths, SS-Gruppenführer und Generalleutnant der Waffen-SS und Polizei, wurde der Aufstand niedergeschlagen: Allein zwischen dem 1. und 5. August erschossen von ihm zusammengestellte Kampftrupps bis zu 50 000 Zivilisten. Insgesamt wurden an die 200 000 Menschen ermordet.
Der Arbeitskreis in Westerland beschloss, zum 70. Jahrestag des Warschauer Aufstandes eine Gedenktafel am Rathaus anzubringen. „Mir war nicht klar, welche Dimensionen unsere Arbeit hier annehmen würde“, erklärt Lochner. Parallel zu ihren Vorbereitungen veröffentlichte der Schweizer Doktorand Philipp Marti das Buch „Der Fall Reinefarth“. Die Stadt hatte sich finanziell an seiner Dissertation beteiligt. „Wir haben Herrn Marti zu einer Lesung ins Gemeindehaus eingeladen“, berichtet Lochner. In der anschließenden Diskussion sei heftig gestritten worden.
Reinefarth – als Anwalt bei vielen hoch angesehen
„In die eigenen Familien zu schauen, das tut auch weh“, sagt Lochner. Von 1951 an war Reinefarth Bürgermeister gewesen, ab 1957 auch Abgeordneter im Landtag. Als Anwalt war er bei vielen hoch angesehen. Seine Tochter und der Enkel leben noch heute in Westerland. „Sie waren einmal beim Arbeitskreis, haben aber argumentiert, dass der Vater und Großvater ja nie verurteilt wurde“, berichtet die Pastorin. In Bezug auf ihre Gemeinde sagt sie: „Es ging mir darum, hier möglichst alle mitzunehmen. Und erst einmal das auszusprechen was war – ohne über jemanden zu richten. Denn wir wissen nicht, wie wir selbst uns verhalten hätten.“
Auch Kontakte nach Warschau entstanden über die Arbeitsgruppe. Die polnische Botschaft lud Bürgermeisterin Petra Reiber, Bürgervorsteher Peter Schnittgard und Anja Lochner zur offiziellen Gedenkfeier im August ein. „Die Kranzniederlegung in Warschau war sehr berührend“, so die Pastorin. „Mit der Gedenktafel vor dem Rathaus bitten wir die Opfer um Vergebung“, sagt Lochner, „doch unsere Arbeit soll weitergehen.“