13. August 2021 von
Nicole Kiesewetter
Zwischen dem 13. August 1961 und dem 9. November 1989 war die Ostsee für viele DDR-Bürger das Meer, das zwischen ihnen und der Freiheit lag. Tausende Menschen wagten die gefährliche Flucht, viele kamen dabei ums Leben.
Die Tragödie beginnt am frühen Morgen des 8. März 1977. Familie Sender will zurück - zurück aus der DDR in die Bundesrepublik. 16 Jahre zuvor sind Ulla und Heinz-Georg Sender den umgekehrten Weg gegangen, haben die Bundesrepublik fluchtartig verlassen und sind in die DDR gezogen. Nun wollen sie wieder in den Westen - zusammen mit ihren drei Kindern Susanne, Beate und Christoph. Über die Ostsee wollen sie fliehen, mit zwei Paddelbooten. Doch die Flucht geht auf dramatische Weise schief. Eines der beiden Boote kentert - Vater Heinz-Georg und die beiden Töchter ertrinken vor den Augen von Mutter Ulla und Sohn Christoph.
Gedenkveranstaltung in Schwerin
Die Landtage von Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein erinnern heute am frühen Nachmittag im Innenhof des Schweriner Schlosses mit einer gemeinsamen Veranstaltung an den Beginn des Mauerbaus vor 60 Jahren. Neben Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (MV), Justizministerin Katy Hoffmeister (MV) und weiteren Politikern wird auch die Landesbischöfin der Nordkirche, Kristina Kühnbaum-Schmidt, an der Veranstaltung teilnehmen.
Landesbischöfin Kühnbaum-Schmidt:
„Heute, am 13. August, denke ich mit Trauer an die Menschen, die bei Fluchtversuchen aus der DDR zu Tode kamen. Ich denke mit Mitgefühl an ihre Angehörigen. Und ich denke an alle, die verfolgt und inhaftiert wurden, weil sie in Freiheit und Demokratie leben wollten.
Mit Schmerz sehe ich die teilweise bis heute anhaltenden Folgen, die Verhöre, Haft und Verurteilung für sie und ihre Familien hatten und zum Teil bis heute haben. Noch immer gibt es viel zu tun, um das ihnen zugefügte Unrecht aufzuarbeiten. Auch die Rolle und Arbeit der Kirchen während der deutschen Teilung muss weiter untersucht und aufgearbeitet werden - in Ost und West.
Der Tag des Gedenkens an den Mauerbau vor 60 Jahren mahnt uns zum entschiedenen Einsatz für Menschenrechte und Demokratie, die in vielen Ländern der Erde noch immer missachtet werden.Er mahnt uns, Menschen, die aus Unfreiheit und Not heute nach Europa und auch zu uns fliehen, hier ein neues Zuhause finden zu lassen. Und lässt uns mit Respekt auf die Menschen sehen, die während der friedlichen Revolution und auch schon lange davor den Mut hatten, sich in der ehemaligen DDR für Menschenrechte und Freiheit einzusetzen.
Auch der 13. August kann ein Anlass sein, einander in Ost und West zu erzählen, welche persönlichen Erlebnisse, Erfahrungen und Erinnerungen wir mit der deutschen Teilung verbinden und was wir daraus für Gegenwart und Zukunft lernen wollen. Für unsere Ost und West verbindende Nordkirche ist das eine wichtige Aufgabe.”
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Wie die Senders haben seit dem Mauerbau am 13. August 1961 bis zur deutsch-deutschen Grenzöffnung 1989 rund 5.600 Menschen die Flucht über die sogenannte „nasse Grenze” gewagt. Rund 80 Prozent von ihnen wurden bei dem Versuch verhaftet, vermutlich 913 (etwa 16 Prozent) ist die Flucht gelungen und mindestens 174 Menschen fanden bei ihrem Fluchtversuch den Tod, weiß der Wissenschaftler Henning Hochstein von der Universität Greifswald. „Ihre Leichen wurden an die Strände zwischen Fehmarn, Rügen und Dänemark gespült oder im Meer in Fischernetzen gefunden.”
Seit zwei Jahren widmen sich Hochstein und seine wissenschaftlichen Kolleginnen Jenny Linek und Merete Peetz der Aufarbeitung und Aufklärung von Fluchtversuchen über die Ostsee mit tödlichem Ausgang. Für seine Recherchen hat das Team unter anderem in Standesämtern nach Sterbeurkunden recherchiert, die einen Ertrinkungstod als Ursache verzeichnen. In alten Polizeirapporten suchten sie nach gemeldeten Leichenfunden. Am Freitag (13. August, 18 Uhr) wird das Team die Ergebnisse im Lübecker Willy-Brandt-Haus präsentieren.
Fluchtversuche über die Ostsee wurden vom gesamten Küstenstreifen aus unternommen - von der Insel Usedom im Osten über den Darß bis ins grenznahe Dassow im Westen. Dabei hätten die Forschungen ergeben, dass in der Region von Dassow bis Kühlungsborn die Fluchten meist ohne Hilfsmittel, „maximal mit einem Neoprenanzug”, unternommen wurden. In den weiter östlich gelegenen Bereichen seien dann Surfbretter oder „maschinelle Hilfsmittel” zum Einsatz gekommen.
Boltenhagen ein „Hotspot” als Ausgangspunkt der Flucht
Ein Hotspot als Ausgangspunkt der Flucht war Boltenhagen. Von dort bis ins schleswig-holsteinische Dahme sind es 30 Kilometer Luftlinie: „Für viele Flüchtlinge die kürzeste Strecke Richtung Freiheit”, sagt Hochstein. Bei gutem Wetter ist von Boltenhagen aus der Leuchtturm von Dahme zu sehen. „Man hatte also eine Richtung, in die man schwimmen oder paddeln konnte, ohne Angst, auf der Ostsee verloren zu gehen.”
Doch viele haben es nicht geschafft. 75 bestätigte Fluchtfälle mit Todesfolge konnte das Forscherteam bisher belegen, bei weiteren 34 Todesfällen gibt es keine Leiche. Darüber hinaus gibt es viele ungeklärte Verdachtsfälle.
Mit einer „Mischung aus heftigem Fatalismus und Naivität” hätten besonders männliche DDR-Bürger vom späten Teenageralter bis Mitte 30 ihre Überquerungsversuche gestartet. „Den Unterlagen ist zu entnehmen, dass Leute sich nicht selten auch ganz spontan zu so einer Aktion zusammengefunden haben.” Entsprechend seien sie schlecht oder gar nicht vorbereitet gewesen. „Die meisten haben die natürlichen Wettergegebenheiten und die Strömungen auf der Ostsee komplett unterschätzt und sind daran gescheitert”.
Gedenkstein für die Toten der Jahre 1961 bis 1989
„Ostseefluchten. Gefährliche Wege in die Freiheit”, Präsentation von Henning Hochstein, Jenny Linek und Merete Peetz, Universität Greifswald, am Freitag, 13. August, 18 Uhr im Lübecker Willy-Brandt-Haus (Königstraße 21, 23552 Lübeck). Eintritt ist frei.
Anmeldung unter 0451/122 4250 oder veranstaltungen-luebeck@willy-brandt.de
Gerade in der westlichen Region um Boltenhagen, in der viele glaubten, in die Freiheit schwimmen zu können, stellten die Forscher einen besonders hohen Grad an Leichenfunden fest. Daran erinnert heute im beliebten Ostseebad ein Gedenkstein für die Toten der Jahre 1961 bis 1989: "Über der Ostsee leuchtete für uns das Licht der Freiheit", ist dort eingraviert. Für die Forschungsgruppe war überraschend, dass die geplanten Fluchten häufig kein Ausdruck von politischem Protest waren, sondern in der Unzufriedenheit mit dem Leben in der DDR begründet lagen. Die Enge wurde als so stark empfunden, dass man das alles nicht ausgehalten hat", sagt Hochstein. „Die DDR hat sich ihre Feinde quasi selbst gebacken.”
„Immer hieß es: Wie konntet ihr nur?”
Ulla und Christoph Sender wurden damals von einer dänischen Schiffsbesatzung gerettet und haben in Westdeutschland ihr Zuhause gefunden. „Die Geschichte der Familie Sender” ist vor einigen Jahren vom dänischen Historiker Jesper Clemmensen aufgezeichnet worden. Auf eine Interview-Anfrage Clemmensens antwortete Ulla Sender: "Ich rede mit anderen Menschen nie über meine Vergangenheit, da es sowieso keiner verstehen will. Immer hieß es: Wie konntet ihr nur?"
Chronik des Mauerbaus in Berlin vom 7. bis 14. August 1961
Mit dem Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961 durch das DDR-Regime erreichte der Kalte Krieg vor 60 Jahren eine neue Stufe der Eskalation. Wer unerlaubt die Sektorengrenze der geteilten Stadt überqueren wollte, tat dies fortan unter Lebensgefahr. Die folgende Chronologie dokumentiert die Ereignisse vom 7. bis zum 14. August 1961.
7. August 1961 Das SED-Politbüro legt den Zeitpunkt der Grenzschließung auf die Nacht zu Sonntag, 13. August fest. Die US-Armee in der Bundesrepublik erhält Hinweise, wonach die Nationale Volksarmee der DDR bereits vier Divisionen in Marsch gesetzt habe. Gleichzeitig versichert der sowjetische Regierungschef Nikita Chruschtschow, keine zweite Blockade West-Berlins zu planen. Den USA und ihren Verbündeten droht er bei Auslösung eines Krieges mit einem „vernichtenden Schlag”.
8. August 1961 Bundesnachrichtendienst und alliierte Geheimdienste registrieren in der DDR laut „Spiegel” starke Truppenbewegungen. Bei einer Zusammenkunft mit US-Außenminister Dean Rusk lehnt der französische Staatspräsident Charles de Gaulle jegliche Verhandlungen über Berlin mit der Sowjetunion ab.
9. August 1961 Während die Schikanen von Grenzgängern nochmals verstärkt werden, beginnen im DDR-Innenministerium und bei der Nationalen Volksarmee unter größter Geheimhaltung die Vorbereitungen für den Mauerbau. Im Westteil der Stadt erörtern die dort ansässigen US-Geheimdienste mögliche Maßnahmen der DDR zum Stopp der Flüchtlingswelle. Nach vorherrschender Meinung gilt eine völlige Abriegelung der Sektorengrenze technisch für undurchführbar.
10. August 1961 Der Bundesnachrichtendienst warnt die Bundesregierung vor baldigen Maßnahmen der DDR gegen die Flüchtlingswelle. Der Oberbefehlshaber der sowjetischen Streitkräfte in der DDR, Marschall Iwan Stepanowitsch Konew, beruhigt seine westalliierten Kollegen: „Was immer in der nächsten Zukunft geschehen mag, Ihre Rechte werden unberührt bleiben, und nichts wird sich gegen West-Berlin richten.” In Washington äußert sich US-Präsident John F. Kennedy besorgt über die Flüchtlingswelle aus der DDR, beharrt aber nicht auf das Recht auf Freizügigkeit innerhalb ganz Berlins. Bei einem Betriebsbesuch von DDR-Staatsratsvorsitzender Walter Ulbricht fordert ein Arbeiter öffentlich freie Wahlen. Nach Verhör und Beschattung durch die Stasi flieht er nach West-Berlin.
11. August 1961 Die DDR-Volkskammer billigt die bereits ergriffenen Maßnahmen zur "Unterbindung der von Westdeutschland und Westberlin aus organisierten Kopfjägerei und des Menschenhandels". Weiter erteilt sie dem Ministerrat faktisch eine Blanko-Vollmacht. Abends informiert der Minister für Staatssicherheit, Erich Mielke, die Führungsspitze der Stasi über den bevorstehenden Mauerbau mit dem Tarnnamen "Aktion Rose".
12. August 1961 Mit 2.400 Flüchtlingen verdoppeln sich im West-Berliner Lager Marienfelde die Neuzugänge gegenüber den Vortagen. Gegenüber der Bonner US-Botschaft befürchtet US-Außenminister Dean Rusk einen neuen Aufstand in der DDR, wie es ihn am 17. Juni 1953 gegeben hatte. Bei Wahlveranstaltungen für die Bundestagswahl Mitte September warnt Kanzler Konrad Adenauer vor einer Panikstimmung.
Sein SPD-Gegenkandidat, Willy Brandt, wirft hingegen der Sowjetunion vor, "einen Anschlag gegen unser Volk" vorzubereiten, "über dessen Ernst sich die wenigsten Menschen klar sind". Die Menschen "in der Zone" hätten Angst, "in einem gigantischen Gefängnis eingeschlossen" zu werden. Während der DDR-Ministerrat vom Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht zu einem gemütlichen Beisammensein in ein abgelegenes Gästehaus eingeladen ist, laufen in Ost-Berlin die letzten Vorbereitungen für den Mauerbau unter der Führung von Ulbrichts späterem Nachfolger, Erich Honecker.
13. August 1961 Um 0.00 Uhr wird die gesamte Nationale Volksarmee in „Erhöhte Gefechtsbereitschaft” versetzt. 3.150 Soldaten setzen sich in Ost-Berlin mit Kampfpanzern und Schützenpanzerwagen in Richtung Stadtmitte in Bewegung. 4.200 Mann aus Potsdam marschieren an den Außenring um West-Berlin. Mehr als 10.000 Volkspolizisten erhalten den Befehl, Stacheldrahtverhaue entlang der Sektorengrenze zu ziehen. Um 01:11 Uhr sowie kurze Zeit später verbreitet die DDR-Nachrichtenagentur ADN Erklärungen der Warschauer-Pakt-Staaten sowie des DDR-Ministerrats, wonach die Grenzen nur noch mit besonderer Genehmigung passiert werden können.
Die Ost-Berliner Bevölkerung wird durch Rundfunk und Flugblätter über die Abriegelung informiert. Fassungslos stehen sich auf beiden Seiten der Sektorengrenze die Menschen gegenüber. Der Senat fordert die Westalliierten zu energischen Gegenmaßnahmen auf, Bundeskanzler Konrad Adenauer mahnt zur Besonnenheit. Die US-Regierung kritisiert die Verletzung des Viermächteabkommens, hält aber fest, dass weder die Position der Westalliierten noch der freie Zugang zu West-Berlin gefährdet seien.
14. August 1961 Das SED-Politbüro beschließt weitere Sperrmaßnahmen am Brandenburger Tor und stellt klar, dass bis auf weiteres den DDR-Bürgern keine Visa für den Grenzübertritt ausgestellt würden. Der Innenminister wird darüber hinaus angewiesen, die bis dahin provisorischen Stacheldraht-Sperren an den früheren Grenzübergängen nach West-Berlin nunmehr „fest” auszubauen. Damit ist der Beschluss zur Errichtung der ersten Mauer-Teilstücke gefasst. Befürchtungen, wonach die Abriegelung zu einem neuen Volksaufstand führen könnte, erweisen sich derweil als gegenstandslos.
Volkspolizei und Stasi registrieren bei der montäglichen Arbeitsaufnahme in den Betrieben keine größeren „Zusammenrottungen”. Dennoch rollt in der DDR die größte Verhaftungswelle sei 1953 an. Der Regierende Bürgermeister in West-Berlin, Willy Brandt, fordert die Bundesregierung auf, die Westalliierten zu "fühlbaren Maßnahmen gegenüber den Initiatoren dieser Willkürmaßnahmen" zu drängen.
In Washington entschließt sich allerdings US-Präsident John F. Kennedy, auf Gegenmaßnahmen zu verzichten, da es sonst zum Krieg kommen könnte. In einem offenen Brief fordert der Schriftsteller Günter Grass die Vorsitzende des DDR-Schriftstellerverbandes, Anna Seghers, auf, „gegen die Panzer, gegen den gleichen, immer wieder in Deutschland hergestellten Stacheldraht anzureden, der einst den Konzentrationslagern Stacheldrahtsicherheit gab.”