Yezidin Nadia Murad: "Genozid vor den Augen der Weltöffentlichkeit"
23. Februar 2017
Was kann die Gesellschaft gegen den Genozid-Terror durch den Islamischen Staat tun? Mit dieser Frage beschäftigte sich am Donnerstagabend (23. Februar) eine Veranstaltung im Kieler Landeshaus, bei der auch die Yezidin Nadia Murad (23) gesprochen hat. Sie wurde 2014 vom sogenannten IS verschleppt, missbraucht und misshandelt. Inzwischen ist sie UN-Sonderbotschafterin für Opfer des Menschenhandels und eine einflussreiche Stimme der religiösen Minderheit der Yeziden. Über ihr Schicksal berichtet die junge Frau im Interview mit nordkirche.de.
- www.nadiamurad.org (engl)
- Zur Pressemitteilung
- <link file:4833>Vortrag Nadia Murad im Landeshaus Kiel
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Frau Murad, wie sah Ihr Leben im Irak vor dem Islamischen Staat aus?
Nadia Murad: Ich habe in einem kleinen Dorf gelebt, mit meinen vielen Schwestern und Brüdern. Wir haben ein kleines Stück Land bewirtschaftet und hatten eine große Schafherde. Es war ein sehr einfaches Leben, doch wir waren glücklich. Besuche in Dohuk, der nächstgrößeren Stadt, konnten wir uns gar nicht vorstellen, so weit weg war das Leben dort von unserem Alltag. Ich war die Jüngste der Schwestern und durfte als Einzige zur Schule gehen, was mir große Freude gemacht hat.
Was und wen haben Sie durch den Terror verloren?
Nadia Murad: Mein Leben jetzt ist in keinerlei Weise vergleichbar mit meinem vorherigen Leben, denn ich habe alles verloren. Mein Dorf existiert nicht mehr, meine Brüder sowie viele meiner Schwestern leben nicht mehr, der Rest meiner Verwandtschaft ist verstreut.
Wie leben Sie heute?
Nadia Murad: Gemeinsam mit einer meiner Schwestern lebe ich in einer Wohnung in Baden-Württemberg. Dies ist mein neues Zuhause, wir fühlen uns sehr wohl und sicher dort.
Wie ist die aktuelle Situation der Yeziden im Irak?
Nadia Murad: Noch so viele Menschen sind in Gefangenschaft des IS, und niemand weiß, wann dieser Genozid an unserem Volk enden wird. Mehr als 2.000 Überlebende fristen ein kaum humanitäres Leben in Flüchtlingscamps im Nordirak. Diese Tragödie ereignet sich noch immer! Und auch politisch gibt es noch keine Perspektive für die Yeziden im Irak. Werden sie wieder in den Sinjar zurückkehren können? Dazu muss sobald wie möglich eine Lösung vor Ort ausgehandelt werden. Es braucht sichere Zonen im Irak für ethnische und religiöse Minderheiten.
Woher nehmen Sie als Überlebende die Kraft für Ihre Arbeit?
Nadia Murad: Ich bin nur eine von vielen, doch ich habe mit dem Auftrag als UN-Botschafterin die Möglichkeit erhalten, für sie alle zu sprechen. So lange dieses Unrecht weiter andauert, so lange es international keine Lösung gibt, muss ich weiter sprechen und alles tun, was in meiner Macht steht. Diese Verantwortung gibt mir die Kraft, weiter aktiv zu sein.
Was können und wollen Sie mit Ihrem Engagement erreichen?
Nadia Murad: Es ist unglaublich, dass vor den Augen der Weltöffentlichkeit ein Genozid geschieht! Ich möchte die Weltgemeinschaft auffordern, zu handeln. Staaten haben die Möglichkeit, Menschen zu helfen und gleichzeitig langfristige Lösungen zu entwickeln.
Diese Verbrechen dürfen nicht unbestraft bleiben. Ich habe mich daher gemeinsam mit meiner Anwältin, Amal Clooney, dafür eingesetzt, diese Verbrechen vor den Internationalen Strafgerichtshof zu bringen, damit diese Gräuel nicht ungestraft bleiben.
Meine Initiative "Nadia's Initiative" setzt sich außerdem sehr konkret für Angebote für Binnenflüchtlinge im Nordirak ein, die als Überlebende dringend psychologische Hilfe brauchen. Diese Arbeit muss noch stärker ausgebaut werden, und ich bin dankbar, dass auch einzelne Länder wie Baden-Württemberg in diesem Bereich Hilfe leisten.
Doch nicht nur yezidische Frauen und Mädchen werden Opfer von Gewalt und Menschenhandel: Als Sonderbotschafterin des Büros der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung für die Würde der Überlebenden von Menschenhandel möchte ich anklagen, dass auch heute, im 21. Jahrhundert, Sklaverei und Menschenhandel geschieht an viel zu vielen Orten auf der Welt.
Wer unterstützt Sie dabei? Wer kann den Yeziden helfen?
Nadia Murad: Ich werde unterstützt von vielen verschiedenen Seiten: Die NGO Yazda hat meine Arbeit von Beginn an begleitet, die UN haben mir einen besonderen Auftrag gegeben, Baden-Württemberg hat mir einen Neuanfang ermöglicht und unterstützt meine Arbeit weiterhin. Viele Einzelpersonen bringen ihre Expertise für meine Arbeit ein.
Doch jeder und jede Einzelne kann tätig werden: Erheben Sie ihre Stimme! Fordern Sie diejenigen zum Handeln auf, die Entscheidungen treffen können! Informieren Sie sich und lassen sie nicht zu, dass das Leid verschwiegen wird! Die Möglichkeiten dazu können unterschiedlich ausfallen, doch Deutschland ist ein freies Land, in dem die Menschen so viel mehr gestalten können als anderswo.
Hintergrund Yeziden
Die Yeziden sind Kurden und teilen das gleiche Schicksal, was die politische und soziale Situation in ihrem Herkunftsland betrifft. Sie gehören aber zu einer kleinen, sich nicht ethnisch oder sprachlich, sondern religiös bestimmenden Gruppe der Kurden, die als Bauern und Viehzüchter verstreut in der Türkei, in Syrien, im Irak und in der ehemaligen Sowjetunion leben. Die Yeziden, die sich selbst als Angehörige der ältesten Religion der Welt ansehen, leben mehrheitlich im heutigen Nordirak. Weltweit werden die Yeziden auf etwa 800.000 bis 1.000.000 geschätzt.
Das Yezidentum ist eine eigene uralte monotheistische Religion. Yeziden glauben nicht nur an Gott, sondern auch an den "Engel Pfau" (Tausi-Melek), den radikale Islamisten für den gefallenen Engel halten, den Teufel.
Auf ihrem Vormarsch im Irak stürmten 2014 Dschihadisten die Dörfer dieser Minderheit in der Sinjar-Region (kurdisch: Schingal) im Norden und damit jenes Gebiet, in dem die meisten Yeziden lebten - geschätzt mehr als 500.000. Die Angreifer zerstörten die Häuser, verschleppten junge Frauen und Kinder, töteten die Männer. Yeziden, die entkommen konnten, flohen ins Gebirge.
Heute, zweieinhalb Jahre später, harrt ein großer Teil der irakischen Yeziden in Flüchtlingslagern der Region aus. Sie haben keinen festen und sicheren Platz gefunden. In die noch unruhige Sinjar-Region wollen die meisten nicht zurück. (Quelle: Enzyklopädie der Mediterranen Minderheitenreligionen/ epd)