Holocaust-Gedenktag

Beauftragte für Christlich-Jüdischen Dialog: Das Judentum ist nicht tot!

Vor der Landessynode im November 2022 hat Hanna Lehming über ihre Arbeit berichtet und ihre Ausstellung "Aschkenas - Jüdisches Leben in Deutschland" vorgestellt.
Vor der Landessynode im November 2022 hat Hanna Lehming über ihre Arbeit berichtet und ihre Ausstellung "Aschkenas - Jüdisches Leben in Deutschland" vorgestellt.© Susanne Hübner, Nordkirche

27. Januar 2023 von Claudia Ebeling

Pastorin Hanna Lehming ist Beauftragte für den Christlich-Jüdischen Dialog der Nordkirche. Anlässlich des Gedenktages an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar, hat die Online-Redaktion von nordkirche.de ein Gespräch mit ihr geführt.

Zur Person: Hanna Lehming leitet auch das Referat für Christlich-Jüdischen Dialog im Zentrum für Mission und Ökumene. Dort gibt es Hintergrundmaterial, Gottesdienstentwürfe, Veranstaltungstipps.

"Ein Wunsch, den ich von jüdischer Seite immer wieder erfahre, ist der, Juden und Jüdisches nicht zu vereinnahmen, sondern die Unterschiedlichkeiten von Judentum und Christentum zu respektieren", erzählt die Beauftragte für den Christlich-Jüdischen Dialog, Hanna Lehming. Das Verhältnis von Christen zu Juden erlebt sie als sehr "befangen": "Das Stichwort „Jude, jüdisch“ ist bei uns mit so vielen Assoziationen belastet und befrachtet, dass an eine unbefangene Begegnung mit dem Judentum oder einzelnen Juden nicht zu denken ist."

Zugleich kritisiert sie, dass das Thema Judentum in der Kirche vor allem unter der Überschrift „Erinnerungskultur“ wahrgenommen wird, als wäre das Judentum tot. Doch  beim Thema Judentum gehe es nicht vor allem um die Opfer der Shoa, sondern um lebendige Menschen, ihre Kultur, Traditionen und Perspektiven. Diese müssten viel mehr in den Blick kommen.

Lesen Sie hier das vollständige Interview:

Frage: Was kann Ihrer Meinung nach so ein jährlicher Gedenktag im Verhältnis zu Jüdinnen und Juden unter uns bewirken?

Hanna Lehming: "Zunächst möchte ich festhalten, dass der 27. Januar der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus ist, also aller Opfer, nicht nur der jüdischen, sondern auch derer von Sinti und Roma, Bibelforschern, Homosexuellen, politischen Gefangenen und vielen anderen.

Dieser Gedenktag ist also nicht die Entsprechung zum Yom HaShoa, dem jüdischen Tag des Gedenkens an die Schoah, der in Israel ein nationaler Feiertag ist. Dabei braucht das jüdische Gedächtnis eigentlich keinen spezifischen Tag für das Gedenken an den Völkermord an den europäischen Juden.

Dieses Gedächtnis ist Teil vieler persönlichen Biografien und auf jeden Fall der kollektiven Identität, auch wenn Jüdinnen und Juden heute großen Wert darauf legen, ihre Identität nicht von der Shoah bestimmen zu lassen. Und auch das finde ich sehr wichtig.

2021 wurde die 1700 Jahre alte Geschichte des Judentums in Deutschland gefeiert. Hanna Lehming hat dazu die Wanderausstellung "Aschkenas" erarbeitet.

Was kann dieser Gedenktag im Verhältnis zu Jüdinnen und Juden bewirken? Er kann zeigen, dass die Gesamtgesellschaft den Völkermord an den europäischen Juden als Teil auch ihrer Geschichte begreift und die jüdische Gemeinschaft nicht einfach allein lässt mit dem Gedenken. Er kann natürlich nichts ungeschehen machen, was an Unrecht verübt worden ist. Aber mindestens kann er die Namen der Ausgegrenzten zurückholen an die Orte, von denen sie vertrieben, verjagt, deportiert worden sind."

Die Ausstellung „Aschkenas – Jüdisches Leben in Deutschland“ im Synodenfoyer.
Die Ausstellung „ASCHKENAS. Jüdisches Leben in Deutschland“ zeigt auf insgesamt 19 Tafeln jüdische Geschichte in Deutschland von 321 bis heute. Sie wurde von Hanna Lehming, Beauftragte für den Christlich-Jüdischen Dialog der Nordkirche konzipiert.© Susanne Hübner, Nordkirche

Wie würden Sie das Verhältnis zwischen Christen und Juden beschreiben?

Das kann man nicht pauschal beantworten. Es gibt enge Freundschaften zwischen Christen und Juden in Deutschland, sicher. Aber im Großen und Ganzen gibt es wohl nur wenige Christen bei uns, die überhaupt einen Juden oder eine Jüdin kennen.

Andersherum ist das natürlich nicht der Fall, denn Juden bewegen sich ja in einer christlichen Mehrheitsgesellschaft. Ich kann nicht sagen, ob Jüdinnen und Juden Bekannte, die zur christlichen Kirche gehören, vor allem als Christen sehen oder einfach als Mitglieder der nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft.

Das Verhältnis von Christen zu Juden würde ich vor allem als eins der Befangenheit beschreiben.

Das Stichwort „Jude, jüdisch“ ist bei uns mit so vielen Assoziationen belastet und befrachtet, dass an eine unbefangene Begegnung mit dem Judentum oder einzelnen Juden nicht zu denken ist. Diese Befangenheit wirkt bis hinein in schulische Unterrichtsmaterialien, sie spielt im öffentlichen Leben wie in persönlichen Begegnungen eine große Rolle.

Ihrer Erfahrung nach: Welche Erwartungen, Anfragen und Wünsche haben Jüdinnen und Juden an die Kirche?

Ich vermute, die erste Erwartung wäre die, dass die christlichen Kirchen sich aktiv gegen Antisemitismus engagieren. Eine weitere Erwartung wäre natürlich, dass die Kirchen durch ihre Theologie und Predigt judenfeindliche Einstellungen nicht noch befördern. In dieselbe Richtung zielen natürlich auch Anfragen.

Ein besonders heikles Thema ist das Verhältnis zum Staat Israel. Die Identifizierung und Verbundenheit von Jüdinnen und Juden mit dem Staat Israel ist sehr tief. Ich denke, er ist für die meisten von ihnen ein Zeichen der Wiedergeburt und der Fortexistenz des jüdischen Volkes nach der Auslöschung von zwei Dritteln der europäischen Juden.

Oft haben jüdische Familien in Deutschland auch familiäre Verbindungen nach Israel. All diese emotionalen Verbindungen zum Staat Israel haben Christen nicht. Stattdessen sind sie sehr eifrig darin, moralische „Lehren aus dem Holocaust“ zu ziehen, die wiederum für Juden in Deutschland oftmals wie ein Schlag ins Gesicht wirken und sie tief verletzen. Dies spielt beispielsweise bei kirchlichen Erklärungen zum Nahostkonflikt eine große Rolle.

Ein Wunsch, den ich von jüdischer Seite immer wieder erfahre, ist der, Juden und Jüdisches nicht zu vereinnahmen, sondern die Unterschiedlichkeit von Judentum und Christentum zu respektieren. Auf allzu euphorische Liebeserklärungen, gar Umarmungen von christlicher Seite reagieren Juden eher mit Skepsis und Zurückhaltung.

Die Pastorinnen und Pastoren des Lübecker Konvents durften am Tag vor der offiziellen Wiedereröffnung der Carlebach-Synagoge die sakralen Räume sehen. "Es ist uns eine Ehre", waren sich die Theologen einig.
Die Pastorinnen und Pastoren des Lübecker Konvents durften am Tag vor der offiziellen Wiedereröffnung der Carlebach-Synagoge die sakralen Räume sehen. "Es ist uns eine Ehre", waren sich die Theologen einig. © Bastian Modrow/KKLL

Was ist Ihrer Meinung nach besonders nötig, um Antisemitismus und Judenfeindlichkeit entgegen zu treten?

Es kommt darauf an, wo und in welcher Form er auftritt. Bei gewalttätigen und ideologischen Judenfeinden braucht man scharfe Gesetze, konsequente Strafverfolgung und eine starke Zivilgesellschaft, die solchen Rassismus nicht duldet.

Da Judenfeindschaft ihre Wurzeln in Kirche und Theologie hat und sich hier nach wie vor in religiösen Klischees ausdrückt, wäre es meines Erachtens zwingend, Basiswissen zum Judentum fest in der Aus- und Fortbildung zu verankern.

Vor allem auch wissenschaftlich halte ich es für unhaltbar, evangelische Theologie zu studieren ohne sich gleichzeitig ein Grundwissen vom Judentum anzueignen. Dabei kann in meinen Augen, ich drücke das jetzt einmal sehr scharf aus, nur theologischer Humbug herauskommen und eine Fortsetzung alter, judenfeindlicher Muster.

"Die Vermittlung des Themas Judentum darf nicht nur Erinnerungskultur bedeuten", sagt Hanna Lehming, Beauftragte für den Christlich-Jüdischen Dialog der Nordkirche. Sie organisiert deswegen regelmäßig persönlichen Austausch des Pastoralkollegs mit der Jüdischen Gemeinde Hamburg und ihrem Landesrabbiner Shlomo Bistritzky. Hier der Besuch des Pastoralkollegs mit Bischöfin Kirsten Fehrs in der Talmud Tora Schule.
"Die Vermittlung des Themas Judentum heißt nicht vor allem Erinnerungskultur", sagt Hanna Lehming, Beauftragte für den Christlich-Jüdischen Dialog der Nordkirche. Sie organisiert deswegen regelmäßig persönlichen Austausch des Pastoralkollegs mit jüdischen Gemeinden in der Nordkirche. Hier ein Besuch in der Jüdischen Gemeinde Hamburg mit Landesrabbiner Shlomo Bistritzky, Geschäftsführer David Rubinstein und Bischöfin Kirsten Fehrs.© ZMÖ

Antijüdischem, das sich unter Kindern und Jugendlichen, z. B. auf dem Schulhof, aber auch unter jungen Leuten mit Migrationshintergrund abspielt, sollte man unter keinen Umständen moralisch begegnen. Das verstärkt antijüdische Ressentiments nur. Hier hilft nur nüchterne, sachliche Aufklärung und Auseinandersetzung.

Die Initiative "Meet a Jew" vermittelt Kontakte zu Jüdinnen und Juden, zum Beispiel für Schulklassen.

Ein Problem ist allerdings, dass auch Unterrichtende oft befangen sind. Da rate ich zu Mut: das Thema anpacken, vielleicht mit der Initiative "Meet a Jew" Kontakt aufnehmen, Informationen sammeln und keine Angst vor Fettnäpfchen haben.

Was muss unsere Kirche lernen, bzw. verändern in ihrem Verhältnis und ihrem Umgang mit dem Judentum, bzw. Jüdinnen und Juden?

Da komme ich auf den Anlass unseres Gesprächs zurück: den Gedenktag 27. Januar. Es ist ein Dilemma, dass das Thema Judentum in der Kirche vor allem unter der Überschrift „Erinnerungskultur“ wahrgenommen wird als wäre das Judentum tot.

Die internationale Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Israel hat zahlreiche Materialien zum 27. Januar zusammengestellt. Unter anderem die "IRemember"-Wall

Das Ende des Zweiten Weltkriegs ist bald 80 Jahre her. Fast niemand von uns hat eine persönliche Beziehung zu den damaligen jüdischen Opfern. Als entsprechend kalt und emotionslos empfinde ich die meisten Gedenkveranstaltungen, in denen die jüdischen Opfer eher Objekte nicht-jüdischer Selbstdarstellung sind als Menschen, um die man trauert.

Aber das Judentum ist nicht tot! Die Kirche sollte sich mehr mit dem lebendigen Judentum befassen.

Eine anderer irreführender Fokus ist das Thema Antisemitismus. Beide Male geht es nicht um Jüdinnen und Juden, nicht um gelebtes, heutiges Judentum, nicht um den Reichtum jüdischer Kultur oder um Begegnung mit jüdischen Nachbarn.

Ich freue mich, dass es in der Nordkirche durchaus auch gute nachbarschaftliche Kontakte zwischen christlichen und jüdischen Gemeinden gibt, obwohl die Zahl jüdischer Gemeinden auf dem Gebiet der Nordkirche sehr klein ist, es sind nur 13.

Nun haben wir aber digitale Formate entdeckt, so dass man durchaus auch einmal einen Vortrag eines kompetenten jüdischen Referenten aus der Schweiz oder aus den USA organisieren könnte, man kann Filme zeigen, Musiker einladen, Exkursionen ins jüdische Museum Berlin anbieten, jüdische Autorinnen oder Autoren miteinander lesen u.v.m.

Jüdisches Hamburg: Ein Buch von Hanna Lehming mit Fotos von Pastor Jakob Henschen

Jüdisches Hamburg_Das Ortsamt St. Pauli in Hamburg war einst das Israelitische Krankenhaus 2
Das heutige Ortsamt in St. Pauli war einst das Israelitische Krankenhaus. 1841 finanzierte Salomon Heine den Bau, den er zum Andenken an seine verstorbene Ehefrau errichten ließ. Hier wurden Patienten jeglicher Konfession aufgenommen, verarmte jüdische Kranke wurden umsonst behandelt. © Jakob Henschen

Das Gebäude des einstigen Tempels Oberstraße, heute Rolf-Liebermann-Studio des NDR. Im Vordergrund das Denkmal von Doris Waschk-Balz: Vorhang des Toraschreins mit heruntergefallener Torarolle.
Das Gebäude des einstigen Tempels Oberstraße, heute Rolf-Liebermann-Studio des NDR. Im Vordergrund das Denkmal von Doris Waschk-Balz: Zerrissener Vorhang des Toraschreins mit heruntergefallener Torarolle.© Jakob Henschen

Jüdischer Friedhof in Hamburg-Altona
Der knapp 1,9 Hektar große Jüdische Friedhof Altona ist der älteste jüdische Friedhof im heutigen Hamburg und der älteste portugiesisch-jüdische Friedhof in Nordeuropa. Wegen seines Alters und seiner einzigartigen Grabkunst wurde er 1960 unter Denkmalschutz gestellt. © Jakob Henschen

Jüdisches Hamburg: Die Hamburger Kammerspiele
1863 wurde das heutige Theater "Hamburger Kammerspiele" von Otto Eduard Ferdinand Pfennig, einem Hamburger Kaufmann, erbaut. 1937 ordnete die Gestapo an, das Grundstück zum Kauf freizugeben. Die „Jüdische Gemeinschaftshaus GmbH“ erwarb es und ließ es zu einem Theater umgestalten. Es sollte Treffpunkt für alle noch in Hamburg lebenden Juden werden. Nach dem Krieg war es das einzige nicht zerstörte Hamburger Theater. Die Schaupielerin Ida Ehre übernahm es.© Jakob Henschen

 

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