Biografiewerkstatt: Geschichten über das kleine Glück
05. Mai 2021
"Lebenszeit vor dem Vergessen bewahren" heißt das neue Buch der Biografiewerkstatt der Paulus-Kirchengemeinde Altona. Enthalten sind darin zehn berührende Geschichten von Menschen der 1920er bis 1940er-Generation. Eine elfte Geschichte dreht sich um einen jungen Mann. Sie alle haben schon früh viel verloren, jedoch nie ihren Lebensmut aufgegeben.
Ein Mädchen sitzt in einem Güterwaggon, der ruckelnd anfährt, ohne dass ihre Mutter, die ihn auf der verzweifelten Suche nach Essbarem verlassen hat, schon zurück ist. Ein Junge wacht in einem Zimmer auf, das so kalt ist, dass seine Kopfhaare an der Wand festgefroren sind. Häufig sind es diese Impressionen von Not und Elend der ersten Nachkriegsmonate, die in den Biografien zur Sprache kommen. Die heute zum Teil Über-90-Jährigen erzählen von Vätern, die nie mehr oder schwer gezeichnet aus den Schützengräben oder den Gefangenenlagern zurückkehren und Müttern, die zur Versorgung der Kinder "Vernunftehen" eingegangen sind.
Frühes Leid und spätes Glück
Die Autorinnen der Biografiesammlung haben diesen Fokus auf die Kindheitserfahrungen der Befragten in den 40er Jahren nicht explizit gewählt. Vielmehr seien sie so prägend, dass die Befragten sie einfach loswerden müssten, sagen Uschi Ziegeler und Helga Thomsen. Die beiden ehemaligen Lehrerinnen betreuen das Projekt Biografiewerkstatt der Paulus Kirchengemeinde Altona seit einigen Jahren. Das Werk "Lebenszeit vor dem Vergessen bewahren" ist der vierte Band, der aus dieser Projektarbeit hervorgegangen und nun im Buchhandel erhältlich ist.
Oft melden sich die Senioren mittlerweile selbst bei den Autorinnen, um ihre Lebensgeschichte zu erzählen und sie damit buchstäblich vor dem Vergessen zu bewahren. Das Erstaunliche sei, wie offen viele über persönliche Probleme sprechen, sagt Autorin Uschi Ziegeler. Nach den traumatischen Fluchterfahrungen in der Kindheit kommen etwa auch gescheiterte Beziehungen, Suchterkrankungen oder Existenzängste im Erwachsenenalter zur Sprache. Trotz dieser einschneidenen Erlebnisse ist den Erzählungen jedoch eines gemein: Sie jammern nicht. Vielmehr wird aus den persönlichen Geschichten deutlich, dass jeder Protagonist versucht hat, das Beste aus den Umständen zu machen und sein Glück zu finden.
Gelassenheit in der Krise
Was bleibt, ist daher sogar oft Dankbarkeit für die trotz allem Mühsal erlebten Freuden. "Das finde ich ermutigend", sagt Ziegeler und ergänzt: "Wir erleben oft, dass die Älteren die jetzige Krise gelassener nehmen als die Jüngeren." 'Da muss man durch, das geht vorbei' sei ein Spruch, den die Autorinnen in Bezug auf die Pandemie von ihnen während der Biografiearbeit öfter zu hören bekommen haben. Und das, obwohl gerade die Hochbetagten zu Beginn der Pandemie durch die Isolation viel zu erleiden hatten.
Wer die Arbeit der Biografiewerkstatt unterstützen möchte, kann eine Spende auf das Konto der Pauluskirche Altona leisten: Hier geht es zu den Kontakt- und Spendenkontodaten.
Auch die geplante Buchpremiere musste Ende 2020 verschoben werden. Nachgeholt werden soll sie im September 2021. "Wir hoffen, dass alle sie noch miterleben können", sagt Helga Thomsen. Gefeiert wird sie mit Lesungen und Chansons der 20er und 30er Jahren in der Pauluskirche. Auch wenn die Biografierten mittlerweile nicht mehr alle in der Altonaer Gemeinde leben, ist dies doch für viele der Ort ihrer Taufe, Konfirmation oder Trauung.
Parallelen zu heutigen Schicksalen
Für einen ist es auch ein Ort des Neuanfangs: Der Afghane Omid ist deutlich jünger als die übrigen Protagonisten des Buches. Auch er hat jedoch eine Geschichte der Flucht und Vertreibung durchlebt: Seine Eltern emigrierten zunächst in den Iran, wo seine Familie nur geduldet, jedoch nicht willkommen ist. Omid soll es besser haben – er soll nach Europa flüchten. Die Tour mit den Schleppern wird für ihn zu einer voller Angst, Ungewissheit, aber auch Hoffnung. "Ähnlich wie die Fluchtgeschichten von damals", sagt Helga Thomsen, der es wichtig war, die Brücke zwischen Heute und Damals mit dieser außergewöhnlichen Geschichte zu schlagen.
Wer wissen möchte, wie Omids Lebensgeschichte weitergegangen ist, kann sie im Werk "Lebenszeit vor dem Vergessen bewahren" nachlesen. Das Buch ist über den Handel oder das Kirchenbüro beziehbar.