Ein Jahr nach der ForuM-Studie

Ein Kulturwandel der Kirche ist für die Prävention von Missbrauchsfällen unerlässlich

Die evangelische Kirche steht vor einem Kulturwandel. Dabei muss klar sein: Veränderungen sind nicht immer "nett und hübsch" sagt Präventionsexpertin Katharina Seiler. Auch lieb gewonnene Dinge müssten auf den Prüfstand, um sexualisierte Gewalt künftig besser verhindern zu können.
Die evangelische Kirche steht vor einem Kulturwandel. Dabei muss klar sein: Veränderungen sind nicht immer "nett und hübsch" sagt Präventionsexpertin Katharina Seiler. Auch lieb gewonnene Dinge müssten auf den Prüfstand, um sexualisierte Gewalt künftig besser verhindern zu können. © cagkansayin, iStock

11. Februar 2025 von Nadine Heggen

Die evangelische Kirche muss einen Kulturwandel schaffen. Davon sind Katharina Seiler, Leiterin der Präventionsstelle der Nordkirche, und der Münchener Theologe Reiner Anselm überzeugt. Beide nehmen am 14. Februar an einer Tagung als Referenten zum Thema ForuM-Studie in Breklum teil. Ziel ist es, sexualisierte Gewalt in Kirche und Diakonie zu verhindern.

Die ForuM-Studie wurde vor rund einem Jahr veröffentlicht. Sie beschäftigt sich unter anderem mit den strukturellen Ursachen für Missbrauch in der evangelischen Kirche und Diakonie und erforscht den Umgang mit Betroffenen. 

Grenzverschiebungen sind gefährlich

Bei der Tagung werden Katharina Sailer, Leiterin der Präventionsstelle der Nordkirche, und ihr Vorgänger Rainer Kluck, über Risiken und notwendige Maßnahmen zur Vorbeugung von Missbrauch sprechen. Zu den Risiken gehöre, dass mögliche Täter diffuse Nähe ausnutzen könnten. „Sie bahnen Übergriffe an, indem sie Grenzen verschieben und die Wahrnehmung der anderen verwirren“, erklärte Sailer.

Es müsse deshalb in der Kirche offen diskutiert werden, wo die persönlichen Grenzen jedes einzelnen liegen und was genau sie verletzt. „Hier brauchen wir einen reflektierten Umgang. Wenn ich mir nicht sicher bin, ob eine Umarmung zum Trost oder als Unterstützung, kann ich nachfragen“, sagte Seiler.

Veränderung ist nicht nur "nett und hübsch"

Zum Wandel gehöre auch, dass man sich von lieb gewonnenen Dingen verabschiede, so die Präventionsexpertin. Dazu könne ein Spiel in der Jugendarbeit gehören, bei dem Teamer und Jugendliche sich räumlich sehr nah kämen. Auch als zu machtvoll empfundene Gesten etwa beim Segnen in Gottesdiensten müssten eventuell überdacht werden. Veränderung sei nicht nur "nett und hübsch". 

Dass die evangelische Kirche einen Kulturwandel braucht, davon ist auch der Münchener Theologe Reiner Anselm überzeugt. „Kirche kann nicht weiterhin als Moralapostel auftreten. Wir brauchen einen Diskurs darüber, wie Kirche die Freiheit und Würde jedes Einzelnen schützen kann“, sagte der Theologieprofessor im epd-Gespräch. 

Anerkennungsstelle

Bis zum 31. Dezember 2024 hatten sich seit 2012 allein bei der Nordkirche 84 Menschen zur Anerkennung gemeldet, die von sexueller Gewalt in der Kirche betroffen sind. Davon stammen 77 aus der Landeskirche, sieben betreffen die Diakonie.

Hier geht es zur Anerkennungskommission

Verneinung von Hierarchien birgt Risiken

Die Schattenseiten theologischer Konzepte müssten dringend aufgearbeitet werden, findet Anselm. Die evangelische Kirche habe zunächst ein paternalistisches Kirchenbild gepflegt, in dem Machtausübung ganz selbstverständlich gewesen und etwa gegenüber Theologinnen und Homosexuellen kaum reflektiert worden sei. Dann aber habe sie im Kontext der 1968er-Bewegung Macht und Hierarchien innerhalb ihrer Strukturen schlicht verneint, nach dem Motto „Kirche ist die Gemeinschaft der Getauften, in der doch alle Geschwister sind“. „Diese Leugnung verhindert Selbstkritik und eine offene Diskussion über Machtmissbrauch“, erklärte der Theologe.

Hilfe-Telefon bei sexualisierter Gewalt: 0800-0220099

Ein ähnliches Bild ergebe sich in der Sexualethik: Nach einer sehr restriktiven Sexualmoral habe seit den 1970er-Jahren auch in der Kirche eine massive Liberalisierung eingesetzt. Zusammen mit den Vorstellungen von Reformpädagogen wie Helmut Kentler, die auch innerhalb der Kirche Resonanz fanden und sogar sexuelle Kontakte mit Heranwachsenden idealisierten, führte dies zu einem Klima, das Pastoren ausnutzen konnten. Kumpelhafte Nähe und fehlende ethische Leitlinien hätten Grenzüberschreitungen und sexualisierte Gewalt begünstigt.

Es gilt, die Autonomie des Einzelnen anzuerkennen

Außerdem habe die Idealisierung von Gemeinschaft dazu beigetragen, dass sexuelle Übergriffe möglich waren. „Charismatische Führungsfiguren in der Kirche konnten eine Atmosphäre schaffen, die Schutzmechanismen und individuelle Grenzen auflösten“, meinte Anselm.

Neue Maßstäbe und Standards seien nun nötig, damit Missbrauch in der Kirche nicht wieder vorkomme. Die Kirche müsse sich explizit zur Autonomie des Einzelnen und zu den Menschenrechten bekennen. Moralische Machtverhältnisse sollten nicht geleugnet, sondern offen thematisiert und kontrolliert werden. Demokratische Strukturen mit gleichzeitig klaren Zuständigkeiten in der Kirche gehörten gestärkt. Eine entscheidende Reformmaßnahme sei die Eingliederung der Grund- und Freiheitsrechte in die Kirchenverfassung. Bislang basiere die Kirchenordnung mehr auf theologischen Prinzipien als auf expliziten individuellen Rechten, sagte Anselm.

Wandel in Institutionen dauert lange

Er ist der Überzeugung, dass die Institution Kirche einen Kulturwandel schafft, aber eben nicht von heute auf morgen. „Eine Institution ist eigentlich dazu da, auch in Krisenzeiten stabil zu sein. Ein Wandel innerhalb einer Institution ist ein dementsprechend langer Prozess.“

Präventionsmaßnahmen in der Nordkirche 

Für einen nachhaltigen Kulturwandel braucht es immer wieder den Diskurs über Umgang und Regeln. Die Inhalte der ForuM-Studie werden deshalb auf Synodentagungen, Pröpstinnen- und Pastorenkonventen und in Gemeinden diskutiert. Neue Erkenntnisse aus der Studie sollen in die Evaluation des Präventionsgesetzes von 2018 einfließen.

Zu den bisher umgesetzten Schutzmaßnahmen gehört, dass alle Pfarrpersonen und Beschäftigten der Nordkirche, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, seit 2018 zu einer Präventionsfortbildung gegen sexualisierte Gewalt verpflichtet sind. Das Abstinenzgebot verbietet sexuelle Kontakte von kirchlichen Mitarbeitenden zu Menschen, zu denen ein berufsbedingtes Abhängigkeits- oder Vertrauensverhältnis besteht.

Das Abstandsgebot fordert „die professionelle Balance von Nähe und Distanz“. Die Kirche verlangt zudem die Vorlage eines erweiterten polizeilichen Führungszeugnisses von allen Haupt- und Ehrenamtlichen, die mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben. Es ist alle fünf Jahre neu vorzulegen.

Zu der Stabsstelle Prävention in Hamburg mit acht Stellen gibt es in allen 13 Kirchenkreisen Präventionsbeauftragte.

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