Interview mit Forscherin zur ForuM-Studie

Verantwortung übernehmen heißt: Kein Rechtfertigen oder Bagatellisieren von Fällen sexualisierter Gewalt

Macht- und Abhängigkeitsgefälle begünstigen Missbrauch. Die evangelische Kirche muss sich damit auseinandersetzen, wie sie Strukturen so verändert, dass sexualisierte Gewalt verhindert wird. Daneben gilt es, auf die Betroffenen zuzugehen. Keinesfalls sollten die Taten bagatellisiert werden, sagt Safiye Tozdan vom Institut für Sexualforschung am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf.
Macht- und Abhängigkeitsgefälle begünstigen Missbrauch. Die evangelische Kirche muss sich damit auseinandersetzen, wie sie Strukturen so verändert, dass sexualisierte Gewalt verhindert wird. Daneben gilt es, auf die Betroffenen zuzugehen. Keinesfalls sollten die Taten bagatellisiert werden, sagt Safiye Tozdan vom Institut für Sexualforschung am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf.© Narong Rammanee, iStock

11. Februar 2025 von Nicole Kiesewetter

Ein Jahr ist es her, dass die ForuM-Studie zur sexualisierten Gewalt in der evangelischen Kirche und Diakonie veröffentlicht wurde. In Breklum setzt sich eine Expert:innen-Runde nun damit auseinander, wie ein Kulturwandel gelingen kann, um Missbrauchsfälle zu verhindern.

Ein unabhängiges Forscherteam veröffentlichte im Januar 2024 die so genannte ForuM-Studie über sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche und der Diakonie. Es war die erste bundesweite Studie dieser Art. Zum Ziel hatte sie, eine empirische Grundlage für die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in den 20 evangelischen Landeskirchen, der EKD und der Diakonie zu legen. Dazu wurden neben Fallzahlen auch strukturelle Ursachen für Missbrauch und der Umgang mit Betroffenen erforscht.

Eine der Forschenden war Safiye Tozdan vom Institut für Sexualforschung am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Am 14. Februar wird sie die Ergebnisse des Teilprojekts D der Forum-Studie bei einer Tagung im Christian-Jensen-Kolleg vorstellen. Zu diesem Treffen sind sowohl Theolog:innen als auch Forscher:innen und Präventionsexpert:innen geladen. Im epd-Gespräch sagt Safiye Tozdan, welche Erkenntnisse sie aus der Studie gewonnen hat und welche Veränderungen die Kirche daraus ableiten sollte. 

epd: Was sind die wichtigsten Ergebnisse Ihrer Studie?

Safiye Tozdan: In Berichten Betroffener und in den wissenschaftlichen Analysen des Forschungsverbundes ForuM ließen sich eine Vielzahl sexualisierte Gewalt begünstigende Strukturen finden. Ebenso berichteten Betroffene, wie Beschuldigte diese Strukturen für sich nutzen konnten, um Zugang zu Kindern und Jugendlichen zu erhalten, sexualisierte Gewalt einzuleiten sowie unentdeckt und zumeist ohne Konsequenzen für sich zu handeln. Ein wichtiges Ergebnis ist außerdem, dass sich in der evangelischen Kirche und Diakonie spezifische missbrauchsbegünstigende Strukturen und Täterstrategien finden lassen. Durch den ForuM-Abschlussbericht und weitere folgende Veröffentlichungen hat die Kirche nun ausreichend Ansatzpunkte, um spezifische Präventions- und Aufarbeitungsmaßnahmen umzusetzen.

Thema Kulturwandel in Theorie und Praxis – was muss sich bei Kirche ändern?

Tozdan: Es braucht ein flächendeckendes Umdenken bei allen Mitgliedern, damit Präventions- und Aufarbeitungsbemühungen auch tatsächlich greifen. Das bedeutet z.B., dass Schulungen zu dieser Thematik nicht als Ordnungspunkt gesehen werden dürfen, der einfach nur abgehakt wird. Die eigentlich relevante Frage wäre also eher, wie man Leitungspersonen, Angestellte, Mitglieder, die Gemeinde – also die Menschen in der evangelischen Kirche erreicht und überzeugt.

Hilfe-Telefon bei sexualisierter Gewalt: 0800-0220099. Kostenlos und anonym. 

Die Kirche sollte weiterhin Verantwortung übernehmen, ohne ein „Aber“ hinterherzuschieben. Konkret bedeutet dies z.B. kein Rechtfertigen und kein Bagatellisieren von Fällen sexualisierter Gewalt, etwa als „Einzelfälle“. Auch sollte es keine Diskrepanz geben, zwischen dem was öffentlich ge- und versprochen wird und dem was tatsächlich umgesetzt wird. Gleichzeitig erscheint die Auseinandersetzung mit Themen wie Macht und Abhängigkeitsverhältnisse, Sexualität, das Selbstbild der Kirche sowie der Umgang mit Grenzen im Miteinander von großer Bedeutung zu sein.

Wie sollte der zukünftige Umgang mit Betroffenen aussehen?

Tozdan: Durch unsere Ergebnisse ist noch klarer geworden, dass es nicht beim Zuhören bleiben sollte. Es ist wichtig, dass Betroffene in die Prozesse der Aufarbeitung und Prävention miteinbezogen werden. Die evangelische Kirche sollte sich dabei auch kritischen Auseinandersetzungen mit Betroffenen stellen. Im besten Falle kann dies als Chance gesehen werden und nicht als etwas, das die Kirche bedroht. Wichtig ist auch, dass sich die evangelische Kirche externe Unterstützung holt, um den Umgang mit Betroffenen im Kontext von Aufarbeitung sexualisierter Gewalt besser zu gestalten, z.B. über spezialisierte Beratungsstellen oder Kinderschutzzentren.

Die evangelische Kirche steht am Anfang der wissenschaftlichen Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt. Neben weiteren wissenschaftlichen Untersuchungen zu sexualisierter Gewalt, um die sich die Kirche bemühen sollte, braucht es ein strukturiertes Vorgehen im Umgang mit Betroffenen und Beschuldigten und auch klare Regeln der Dokumentationen von Fällen sexualisierter Gewalt oder von Verdacht auf ein Gewaltgeschehen. 

Hintergrund (1/2)

Vor rund einem Jahr veröffentlichte ein unabhängiges Forscherteam eine Studie über sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche und der Diakonie. Die Forscher gehen darin von mindestens 1.259 Beschuldigten, darunter 511 Pfarrpersonen, und mindestens 2.225 Betroffenen für den Bereich der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der Diakonie aus. 

Die Studie wurde vom interdisziplinären Forschungsverbund „ForuM – Forschung zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der Evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland“ erstellt. Die EKD hat die Studie mit 3,6 Millionen Euro gefördert. Der Forschungsverbund wurde von Martin Wazlawik von der Hochschule Hannover koordiniert.

Hintergrund (2/2)

Neben der Untersuchung von Missbrauchsursachen, wurde auch der Umgang mit Betroffenen thematisiert. Betroffene waren zum Teil auch selbst als Co-Forschende beteiligt oder wurden zu ihren Erfahrungen interviewt.

Schwierigkeiten stellte die Datenerhebung dar: Die Forschenden waren dabei auf die Zuarbeit der Landeskirchen und Diakonie-Landesverbände angewiesen, die eigene Beschäftigte mit der Aktendurchsicht beauftragten. Ursprünglich gehörte eine stichprobenartige Durchsicht von Personalakten zum Forschungsdesign. Bis heute streiten sich Landeskirchen und Forscher über die Gründe, warum diese nicht stattfand. Es wurden stattdessen nur sogenannte Disziplinarakten für Pfarrer (4.282) durchgesehen. Die Fallzahlen würden dadurch erheblich unterschätzt und zeigten allenfalls die „Spitze der Spitze des Eisbergs“, bemängelten die Forschenden

Die Studie gibt zudem Hinweise auf den Umgang mit Betroffenen, wenn diese Taten bei kirchlichen Stellen anzeigten. Betroffene erlebten zumeist kaum Unterstützung und wenig Sensibilität. Ihre Darstellung wurde laut Studie angezweifelt, die Beschuldigten oftmals geschützt.

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