Flüchtlingsbeauftragte: "Das gegeneinander Ausspielen von Notlagen ist gefährlich"
29. September 2022
Wer sein Heimatland notgedrungen verlässt, hat viel durchgemacht: Gewalt, Verfolgung, Angst. Doch Sicherheit gibt es auch auf der Flucht nicht. Zum Tag des Flüchtlings (30. September) sagt Pastorin Dietlind Jochims, Flüchtlingsbeauftragte der Nordkirche, was sich ändern muss, damit alle Schutzsuchenden in Würde leben können.
Jedes Jahr erinnert Pro Asyl mit einer Aktionswoche rund um den "Tag des Flüchtlings" an die verzweifelte Lage von Menschen, die keinen anderen Ausweg sehen, als ihre Heimat zu verlassen und woanders Schutz zu suchen. Unterstützt wird die Organsiation dabei auch von den christlichen Kirchen.
nordkirche.de: Frau Jochims, auf der jüngsten Landessynode der Nordkirche haben Sie gesagt, dass Flüchtlingssolidarität und Menschenrechtsarbeit ein Ausdruck gelebten Glaubens sind. Was war für Sie persönlich in der letzten – sicherlich sehr arbeitsreichen Zeit – der schönste Ausdruck dieses gelebten Glaubens?
Dietlind Jochims: Für mich persönlich zeigen sich der Sinn und die Schönheit meiner Arbeit immer dann, wenn in all dem „Säen, Jäten und Bewässern“ sich Frucht zeigt oder eine Blüte öffnet.
Meine Highlights der letzten Woche: Wenn eine Kirchengemeinde innerhalb von 24 Stunden ein Kirchenasyl für eine afghanische Familie mit drei kleinen Kindern ermöglicht. Wenn ein Mitarbeiter einer Ausländerbehörde außerhalb seiner Dienstzeit anruft und sagt, dass ihn ein Anliegen sehr berührt habe und er alles ihm Mögliche für die betroffene Person tun werde. Wenn der minderjährige Bruder eines 23-jährigen Syrers endlich aus Griechenland einreisen darf, nachdem das Gerichtsverfahren gegen das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gewonnen wurde. Wenn deutsche, afghanische, syrische, irakische und ukrainische Frauen gemeinsam beim Frauencafé sitzen und miteinander lachen …..
Die Flüchtlingsbeauftragten der Nordkirche waren in diesem Sommer mit einer Aktions- und Infotour unterwegs, um auf die Not Geflüchteter aufmerksam zu machen. Gleichzeitig wollten sie mit Ehrenamtlichen ins Gespräch kommen. Wie waren die Rückmeldungen der Menschen, die Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen getroffen haben? Was bewegt sie?
„Wie schön, dass IHR zu UNS kommt“ war eine häufige Rückmeldung von Ehrenamtlichen, die wir in Gemeinden besucht haben. Das Engagement vor Ort zu würdigen war gut und wichtig. Neben Gemeinden waren wir auf Wochenmärkten, bei Kinoveranstaltungen, Studierenden, Ämtern, an Häfen, Bühnen, in Kirchen oder Stadthallen.
Natürlich bewegt der Krieg gegen die Ukraine die Menschen, viele sorgen sich aber auch um die weiteren Geflüchteten, die aus dem Fokus geraten sind. Über deren dramatische Situation an den europäischen Grenzen informierte die Ausstellung „Grenzerfahrungen“, die mit uns im Infomobil gereist ist.
Laut Ihrem kürzlich vorgestellten Bericht über die Flüchtlingsarbeit der Nordkirche ist die Zahl der ehrenamtlich Engagierten in den vergangenen Jahren zurückgegangen. Woran liegt das?
Das hat unterschiedliche Gründe. Eine Erklärung liegt in den veränderten Gesetzen: Seit einigen Jahren werden Geflüchtete in zentralen Erstaufnahmen, häufig isoliert gelegen, untergebracht. Das erschwert Begegnungen mit Menschen, die schon lange hier leben. Der Rückgang des ehrenamtlichen Engagements ist somit zum Teil direkte Folge der Politik. Dass es auch wieder anders geht, zeigt die enorme Unterstützung der Geflüchteten aus der Ukraine. Diesen ist zum Beispiel von Anfang an auch privates Wohnen erlaubt und Begegnungen und Kennenlernen sind leichter möglich. Wie 2015 gibt es seit Februar 2022 eine beeindruckende Solidarität auch in den Kirchengemeinden.
Mit der Teilmobilmachung Russlands hat die Dramatik des Krieges noch einmal zugenommen. Mittlerweile versuchen auch viele russische Staatsbürger aus dem Land zu kommen und in Deutschland eine Bleibe zu finden. Was wird aus Ihnen?
Wer flieht, weil er sich nicht an einem völkerrechtswidrigen Nagriffskrieg und Kriegsverbrechen beteiligen will, ist schutzwürdig. Inwiefern das auf aus Russland Geflohene zutrifft, wird nach Ankunft in Deutschland hier im Asylverfahren geprüft.
Die Schwierigkeiten beginnen jedoch vorher – wie für die meisten anderen Flüchtlinge: Eine legale Ausreise ist kaum möglich, eine legale Einreise ebenso wenig. Wer europäische Außengrenzen erreicht, riskiert rechtswidrige Zurückweisungen. Und selbst wer Deutschland erreicht, findet sich dann nach der Einreise über ein anderes Land im so genannten Dublin-Verfahren.
Unsere Forderungen nach sicheren Fluchtwegen sind nicht neu, aber auch im Fall von aus Russland fliehenden Kreigsdienstverweigerern nach wie vor und wieder aktuell.
Mit dem Krieg gehen auch hierzulande erhebliche Preissteigerungen bei Lebensmitteln und Energieträgern einher. Das soziale Ungleichgewicht verschärft sich. Führt dies auch zum Erstarken von Ressentiments gegen Geflüchtete? Und wenn ja: Wie treten Sie dem entgegen?
Das gegeneinander Ausspielen von Notlagen ist gefährlich. Es ist nicht nur bei Ressentiments gegen Geflüchtete zu beobachten, sondern auch in den Schlangen vor der Lebensmittelausgabe der Tafeln oder auch bei Geflüchteten untereinander: Warum bekommt ein ukrainischer Kriegsflüchtling sofort Aufenthalt, Arbeitserlaubnis und Wohnmöglichkeit? Gibt es Flüchtlinge erster und zweiter Klasse? Das fragen sich etliche Kriegsflüchtlinge aus Afghanistan oder Somalia, die seit langem darum ringen.
Unser Anliegen sind Teilhabechancen und Menschenrechte für alle. Wenn wir hier spalten (lassen) oder gegeneinander ausspielen, schwächen wir das Zusammenleben in unserer Gesellschaft insgesamt. Unser Fokus liegt auf der Stärkung des Miteinanders und dem Schutz der Schutzbedürftigen – gerade auch, wenn es schwieriger wird. Solidarität und Nächstenliebe sind keine Schönwetterwerte.
Zugleich dominiert der Krieg in der Ukraine die Berichterstattung, andere Krisenherde kommen kaum noch vor. Wo bedarf es andernorts dringend Hilfe?
Ich kann verstehen, dass die Vielzahl der Krisen, Probleme und Ängste dazu führt, nur noch einzelne wahrnehmen zu können. Meine Aufgabe als Flüchtlingsbeauftragte ist es aber, auch die „vergessenen“ Konflikte vor Augen zu führen: Was geschieht mit den zugesagten Aufnahmen besonders gefährdeter Menschen aus Afghanistan? Fast ein Drittel der 33.000 Afghan:innen mit deutscher Aufnahmezusage warten noch immer, evakuiert zu werden.
Und was ist mit den Zahlreichen, die bedroht sind, aber keine Aufnahmezusage haben? Warum ist der Familiennachzug zu Anerkannten häufig nach wie vor ein bürokratischer Marathon? Und wer spricht noch über das Lager Moria, jetzt Kara Tepe, auf Lesbos?
Ein Wort noch zur politischen Situation: Sie kritisieren seit langem die Unterbringung von Geflüchteten in sogenannten Ankerzentren, die für unabhängige Beobachter oft schwer zugänglich sind. Was müssten sich abgesehen von der Wohnsituation dringend ändern, damit alle Zufluchtsuchenden in Würde leben können?
Die so genannten Ankerzentren sind ja nicht nur für unabhängige Beobachter:innen schwer zugänglich. Sie erschweren auch die alltäglichen und nachbarschaftlichen Begegnungen, die für ein Kennenlernen und Zusammenleben wichtig sind.
Schnellere Rechtssicherheit bei fairen Asylverfahren ist eine weitere dringende Forderung: Jahrelanges Leben in Unsicherheit über eine Bleibemöglichkeit stellt eine hohe Belastung dar und ist auch einer Integration nicht förderlich. Und schließlich gehört zu einem Leben in Würde eine angemessene Kommunikation miteinander: Das gilt für den häufig rüden Ton im Umgang mit Geflüchteten (und zunehmend leider auch überhaupt in der Gesellschaft miteinander); das gilt für die unzureichende Zahl an Sprachkursen; das gilt für ein Interesse aneinander.
Und im Blick über die Nationalgrenzen: Dringend ändern müsste sich die europäische Praxis eines zunehmenden gewaltvollen Zurückdrängens von Geflüchteten an den europäischen Grenzen. So werden die proklamierten Werte von der Achtung der Menschenrechte, von der Freiheit und der Würde jedes Menschen mit Füßen getreten.