Historiker Linck: Bei Aufarbeitung der NS-Zeit sind wir noch nicht am Ende
27. Januar 2023
Dr. Stephan Linck ist Studienleiter für Erinnerungskultur und Gedenkstättenarbeit in der Evangelischen Akademie der Nordkirche. Die Online-Redaktion hat mit ihm über die Bedeutung und Notwendigkeit von Gedenktagen, wie dem 27. Januar, auch heute gesprochen.
Hintergrund: Dr. Stephan Linck hat 2016 für die Nordkirche die Ausstellung "Neue Anfänge nach 1945?" erarbeitet. Eine umfangreiche Website informiert über Sachstand, Hintergründe und beeinhaltet Materialien
Die Kirche ist nach den Worten von Stephan Linck noch dabei, das eigene Fehlverhalten während des Nationalsozialismus aufzuarbeiten und kritisch zu reflektieren. "Bei unserem Umgang mit Kunst, die in der NS-Zeit entstanden ist, und Kriegerdenkmälern in und vor unseren Kirchen wird dies besonders deutlich", sagt er.
Um glaubwürdig zu sein beim Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus heute, gehöre es, sich ernsthaft mit der eigenen Geschichte auseinander zu setzen. Gedenktage seien wichtige Bausteine dabei. Denn: "Da, wor wir weniger gedenken, sind wir auch weniger sensibilisiert", betont er.
Lesen Sie hier das vollständige Interview:
Frage: Jedes Jahr, am 27. Januar, gedenken wir der Opfer des Nationalsozialismus. Wie wichtig ist Ihrer Meinung nach auch heute noch so ein Gedenktag?
Stephan Linck: "Dieser Tag erinnert uns daran, wohin Antisemitismus in letzter Konsequenz führen kann, nämlich in die Barbarei. Sich dies zu vergegenwärtigen ist auch und gerade heute wichtig."
Hat unsere Kirche Versäumnisse bei der Aufarbeitung ihrer eigenen Vergangenheit während des Nationalsozialismus?
"Die Kirche war mehrheitlich Trägerin von Antisemitismus, das ist in den Nachkriegsjahren nicht ausreichend kritisch reflektiert worden.
Erst in den 80er Jahren wurde schrittweise damit begonnen, das eigene Fehlverhalten aufzuarbeiten. Und damit sind wir noch nicht am Ende.
Besonders deutlich wird dies bei unserem Umgang mit Kunst, die in der NS-Zeit entstanden ist: Es gibt eine Zahl von Kirchen, die in der NS-Zeit gebaut oder umgestaltet wurden.
In manchen Kirchenräumen existiert heute noch eine Bild- und Formensprache, die NS-Idealen entspricht.
Und wenn das dort unkommentiert gezeigt wird, transportieren wir heute diese Narrative weiter.
Das Projekt "Denk mal gegen Krieg" des Arbeitsbereiches Erinnerungskultur der Evangelischen Akademie der Nordkirche dokumentiert Denkmäler und ihre Hintergründe in allen drei Bundesländern.
Ähnliches gilt für Kriegerdenkmäler, in und vor unseren Kirchen: Nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Ikonographie der Gedenkstätten des Ersten Weltkriegs nicht verändert, sondern durch die Jahreszahlen 1939-1945 samt Namenstafeln der toten Soldaten ergänzt worden.
In Kirchen wurden vielfach Gedenk- oder Ehrenbücher ausgelegt. In Schleswig-Holstein oftmals versehen mit den Dienstgraden der Toten, mitunter wird die SS-Zugehörigkeit dabei mit den SS-Runen kenntlich gemacht.
- Immer mehr Menschen haben keinen Bezug zu unserer Kirche und ihnen erschließt sich nicht, dass wir inzwischen vielfach eine Distanz haben zu Darstellungen, Tafeln, Denkmälern oder ähnlichem, was in unseren Kirchen oder auf unseren Grundstücken steht."
Wir sind genötigt, diese Distanz sichtbar und spürbar zu machen.
Wie wichtig sind Aufarbeitung und Gedenken bei der Bekämpfung von Antisemitismus und Rassismus?
"So ein Gedenktag ist nur ein Baustein und der 27. Januar sollte nicht der einzige Gedenktag sein und er ersetzt nicht anderes Gedenken. Auch Sinti und Roma waren Opfer des Nationalsozialismus, doch ihre Geschichte und ihre Leiden sind in unserem kulturellen Gedächtnis weniger verankert. Ihre Gedenktage sind kaum im öffentlichen Bewusstsein. Und noch heute werden sie diskriminiert, Antiziganismus ist weit verbreitet."
Da, wo wir weniger gedenken, sind wir auch weniger sensibilisiert.
Welche Aufgabe hat die Gedenkstättenarbeit der Kirche Ihrer Meinung nach, um Antisemitismus und Rassismus in unserer Gesellschaft entgegen zu treten?
"Zum einen ist es wichtig, dass wir selber glaubwürdig sind und dazu gehört es, sich ernsthaft mit der eigenen Geschichte auseinander zu setzen.
Wir brauchen eine reflektierende und kritische Haltung, die dazu führt, dass wir Fragen stellen und uns auch verunsichern lassen.
Dinge, die wir bislang nie hinterfragt haben, weil sie immer schon da waren oder noch nie falsch verstanden wurden, dürfen auf den Prüfstand – ohne Rücksichtnahme, aber im Rahmen einer fairen Streitkultur. Nur so kommen wir zum Umsteuern und einem neuen Handeln."