Holocaust-Überlebender: Nicht alle waren Mörder
25. Januar 2022
Erst verfolgt, später gefeiert: Ivar Buterfas-Frankenthal (89) entging als Kind nur knapp der Deportation. Sein Engagement für die Demokratie wurde später mehrfach ausgezeichnet. Bekannt wurde er in Hamburg mit "Rettet die Nikolaikirche"
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Aus dem Stapel auf dem Wohnzimmertisch zieht Ivar Buterfas-Frankenthal ein Buch, das Hamburger Schüler nach einem Vortrag für ihn gestaltet haben. Er blättert zu einem Bild, das ein Schüler ein gemalt hat. Zu sehen ist eine Gruppe von Kindern. „Der in der Mitte, das bin ich, umringt von Jungs in HJ-Uniform. Sehen Sie die Verzweiflung in meinem Gesicht?“, sagt der 89-Jährige, der als Kind den Holocaust nur knapp überlebte.
Buterfas-Frankenthal hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, von seiner Kindheit im Nationalsozialismus zu erzählen. Auch heute ist seine Frau Dagmar Buterfas-Frankenthal an seiner Seite. „Meine Frau und ich, wir sind beide Holocaust-Überlebende. Sie können mich todkrank nachts um zwölf aus dem Bett holen. Wenn es um dieses Thema geht, bin ich da.“
Buterfas-Frankenthal kehrt zurück auf das Bild des Schülers. Es war im Jahr 1938, sechs Wochen nach der Einschulung, als der Schulleiter den kleinen Ivar beim morgendlichen Fahnenappell anherrschte: „Buterfas! Tritt einmal hervor. Du darfst nicht mit auf den Klassenausflug und gehst sofort nach Hause. Dein Vater ist Jude. Du hast hier nichts mehr zu suchen.“ Der Fünfjährige verstand nicht. „Meine Mutter hatte nie mit uns über Juden gesprochen. Das war für uns fast schon tabu. Wir wollten bloß nicht auffallen.“
Alpträume über die Schulzeit sind unauslöschlich
Auf dem Nachhauseweg riefen ihm einige Mitschüler „Saujude“ hinterher. In einem Trittrost vor einer Bäckerei machten sie mit Papier- und Stofffetzen ein Feuer, erzählt er. „Sie wollten mich verbrennen. Ich schrie wie am Spieß, bis Passanten mich aus dieser fürchterlichen Situation befreiten.“ Doch die Erinnerung quält ihn noch heute. „Ich habe noch keine Nacht durchgeschlafen. Meistens wegen Alpträumen über die Schulzeit, die sind unauslöschlich.“
Eine Befreiung sei es jedes Mal, wenn er über die Ereignisse spreche. „Unsere Demokratie ist sehr fragil“, sagt er. „Die jungen Leute müssen wissen, was sich damals abgespielt hat.“ 1.504-mal hat er in den letzten 30 Jahren in Schulen und Universitäten erzählt, wie seine Mutter ihren insgesamt acht Kindern mehrmals das Leben rettete. Der Vater war seit 1933 in KZ-Haft. 1940 sollte die Familie deportiert werden. Ein Freund des Vaters, der bei der Gestapo arbeitete, warnte die Mutter rechtzeitig. „Nicht alle waren Mörder“, betont Buterfas-Frankenthal.
Verstecke in Kellern zerstörter Häuser
Die Familie fand Unterschlupf auf einem Gutshof in Westpreußen und floh, als sie entdeckt zu werden drohte, zurück nach Hamburg, hinein in den Bombenhagel des Sommers 1943. Dort versteckte sie sich bis zum Einmarsch der Briten in Kellern zerstörter Häuser. „Wenn wir ein Brot hatten, hat unsere Mutter oft für uns auf ihren Teil verzichtet. Wir Kinder haben unserer Mutter ein Denkmal im Herzen gesetzt.“
Nach dem Krieg ging die Ausgrenzung weiter. „Auf dem Schulhof wurde ich geschnitten. Ich musste mir anhören, dass das mit der Judenverfolgung doch gar nicht so schlimm gewesen sei.“ Der Hamburger Beamte, der dem Jungen 1942 die Staatsangehörigkeit aberkannt hatte, blieb auf seinem Sessel und zögerte die Wiedereinbürgerung bis 1964 hinaus, berichtet Buterfas-Frankenthal. Er zieht ein vergilbtes Dokument aus dem Stapel. „Das hier ist mein Fremdenpass. Alle viertel Jahr musste ich mir bei der Polizei die Aufenthaltserlaubnis einstempeln lassen.“
Einsatz für Frieden und Demokratie
Obwohl er und seine Frau als Staatenlose keine Lehrstelle bekamen, arbeiteten sich die beiden hoch und gründeten ein Bauunternehmen. Parallel betätigte sich Buterfas-Frankenthal als Boxsport-Promoter. Bekannt wurde der in Hamburg als Initiator des 1987 gegründeten Förderkreises „Rettet die Nikolaikirche“. Seit Ende der 1980er wirbt er als Shoah-Überlebender öffentlich für Frieden und Demokratie. „Ich habe mehr als 35 Auszeichnungen bekommen“, sagt er stolz und tippt auf das rote Emaille-Kreuz an seinem Revers, das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse, welches ihm 2020 für sein Engagement als Zeitzeuge des Holocaust verliehen wurde.
Diese Arbeit brachte ihm jedoch auch schon Morddrohungen ein. Er zeigt auf das Fenster zur Terrasse. „Panzerglas.“ Als er sich für die Einrichtung einer Gedenkstätte an das frühere NS-Lager im niedersächsischen Sandbostel einsetzte, wurde er am Telefon als „Judensau“ beschimpft, wie er erläutert. „Ein Anrufer erklärte, dass die Kiste für mich schon fertig sei, in der ich vergast werden soll.“
Oft werde er von Schülern gefragt, warum er nach dem Krieg nicht ausgewandert sei. „Ich bin hier geboren“, antwortet er dann. „Ich bin Deutscher. Ich liebe dieses Land.“ Er freue sich darüber, was aus Deutschland geworden sei. „Sorgen wir dafür, dass es so bleibt.“