Kieler Historiker stellt Forschungsarbeit zu Pastoren in der NS-Zeit vor
30. Mai 2022
Wie haben sich die norddeutschen Pastoren in der NS-Zeit positioniert? Der Historiker Helge-Fabien Hertz hat dies untersucht – und dabei Erstaunliches festgestellt. Mehr dazu erzählt er in unserem Kurzinterview und dem Uni-Podcast "Küstory. Geschichte(n) von der Waterkant".
Insgesamt drei Bände füllen die Nachforschungen von Helge-Fabien Hertz: Er schrieb seine Doktorarbeit darüber, wie sich die Pastorenschaft Schleswig-Holsteins unter der Nazi-Dikatur verhalten hat. Unter die Lupe genommen hat er die Lebens- und Karriereverläufe von 729 Pastoren, die zu dieser Zeit im Amt waren. Als Quellen dienten ihnen nicht nur die Personal- und Entnazifizierungsakten, sondern auch Predigttexte.
Herr Hertz, warum haben Sie gerade diesen Fokus für Ihre Doktorarbeit gewählt?
Im Lauf meines Studiums habe ich festgestellt, dass es bundesweit zu keiner Landeskirche eine Vollerhebung aller Pastoren gab. Die Forschung beschränkte sich im Wesentlichen auf die kirchlichen Leitungsebenen und den sogenannten "Kirchenkampf". Nun liegt erstmals eine Studie in drei Bänden zur gesamten Pastorenschaft einer Landeskirche vor, die zudem ganzheitlich nach deren NS-Positionierung fragt.
Zusätzlich können alle 729 Schleswig-Holsteinischen Pastoren der NS-Zeit über das "Pastorenverzeichnis Schleswig-Holstein" pastorenverzeichnis.de im Netz abgerufen werden – ein Forschungsinstrument für kirchengemeindliche, familiengeschichtliche und wissenschaftliche Anliegen.
Was hat Sie bei Ihrer Arbeit am meisten erstaunt?
Am meisten erstaunt hat mich die – trotz großer Heterogenität – insgesamt sehr weitreichende Mitarbeit von Pastoren am nationalsozialistischen Gesellschaftsprojekt, auch unter Pastoren der "Bekennenden Kirche", und das, obwohl die Kirche als Schutzraum für abweichendes Verhalten diente. Es gab nur einige wenige widerständige Geistliche, deren Haltung faszinierend ist.
Wie waren die Reaktionen der Zeitzeugen bzw. Ihrer Angehörigen auf Ihre Nachforschungen?
Die ersten Reaktionen der Angehörigen fielen sehr unterschiedlich aus: von Danksagungen über interessierte Nachfragen bis hin zur Aufforderung, Einträge im "Pastorenverzeichnis Schleswig-Holstein" zu löschen. Insgesamt scheint sich ein Generationenunterschied im Umgang mit den Forschungsergebnissen abzuzeichnen: Während die direkten Nachfahren der damaligen Pastoren tendenziell skeptischer reagieren, zeigt sich die zweite Generation aufgeschlossener.
Und was sind Ihre Hoffnungen in Bezug auf die weitere Aufarbeitung der NS-Diktatur?
Die NS-Geschichte ist keineswegs "ausgeforscht". Das gilt auch und insbesondere für die Kirchen. Die Studie und das "Pastorenverzeichnis" wollen Impulsgeber sowie Dreh- und Angelpunkt einer weitergehenden Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit sein. Wie groß das Interesse ist, wird daran erkennbar, dass innerhalb der ersten drei Monate bereits 35.000 Interessierte das "Pastorenverzeichnis" genutzt haben.
Vielen Dank!