Menschenwürdiges Leben statt Suizid ermöglichen
02. März 2021
Wie soll man in diakonischen Einrichtungen damit umgehen, dass jemand Hilfe zum Suizid fordert? Prof. Dr. Annette Noller, Vorstandsvorsitzende des Diakonischen Werks Württemberg, sieht es als große Aufgabe, einen solchen Wunsch gar nicht erst entstehen zu lassen.
Noller erklärte dies in einem digitalen Gespräch der Reihe "Tiefenschärfe", einer Veranstaltungsreihe der Nordkirche zum Thema assistierter Suizid. Geladen hatte dazu Landesbischöfin Kristina Kühnbaum-Schmidt, um "einen eigenen – persönlichen wie institutionellen – ethischen Standort zu finden". Gemeint ist eine christliche Perspektive, die nicht allein von persönlichen Überlegungen zu diesem Thema ausgeht.
Menschen sind radikal aufeinander angewiesen
Vor einem Jahr hatte der Bundesgerichtshof entschieden, dass ein generelles Verbot von geschäftsmäßiger Sterbehilfe nicht rechtens sei. Zentraler Begriff dabei: Die Autonomie des Menschen.
Die nächste Veranstaltung der Reihe Tiefenschärfe findet am Mittwoch statt. Hier geht’s zur Anmeldung.
Annette Noller stellte dem "nach eigenen Maßstäben agierenden Subjekt" den Begriff der Angewiesenheit entgegen: "Menschen sind radikal aufeinander angewiesen. Das Individuum existiert stets in Beziehung und Bedeutung für andere. In einer Kultur der Achtsamkeit dürfen Menschen Fehler machen und Würde wird interpretiert als Zeichen einer Verletzlichkeit und Verletzbarkeit des Menschen. Dies erfordert ein unterstützendes Handeln, das nicht allein die Förderung der Autonomie im Blick hat, sondern auch die Bewahrung und Achtsamkeit gegenüber den Menschen, die verletzbar und verletzt sind.
Mehr Unterstützung in Lebenskrisen
Annette Noller führte aus, dass hinter dem Wunsch, zu sterben, zumeist der Wunsch nach einem "menschenwürdigen Leben" stehe. Dafür gelte es, alle Mittel auszuschöpfen und Hilfsangebote leicht zugänglich zu machen.
Teil 1 und 2 der Veranstaltung Tiefenschärfe in Text- und Videoform: Professor Michael German zum Urteil des VerfassungsgerichtsProfessor Dietrich Korsch zum Begriff der Selbstbestimmung und Willensfreiheit
Die württembergische Diakoniechefin fordert konkret: "Wenn wir dieses Gesetz aufmachen, dann brauchen wir ganz viel Unterstützung vom Bund, damit die Menschen, die in diesen schwierigen Situationen sind, gut beraten werden. Wir brauchen den 'Sockel-Spitze-Tausch' in der Finanzierung der Pflege, also eine gute finanzielle Ausstattung für Pflegesituationen über die Pflegeversicherung, damit die Betroffenen nicht das Gefühl haben, zur Last zu fallen. Ich bin überzeugt als Diakonikerin, dass es Angebote gibt, das Leiden zu lindern und sehr viele Möglichkeiten, schwere Leidenssituationen zu überwinden."
In der angeregten Diskussion erzählte Michael Brems, Koordinator der Krankenhausseelsorge in der Nordkirche, von einer Patientin, die er als Klinikseelsorger drei Jahre bis zu ihrem Tod begleitet hatte: Die vom Hals ab gelähmte Frau wählte den assistierten Suizid. Brems meinte: "Es gibt – wenn auch wenige – Situationen, wo wir an Abgründe und Grenzen kommen. Dann ist dies für die Betroffenen der einzige Ausweg aus ihrem unerträglichen Leiden."
Begleiten statt Beenden
Annette Noller, die vor ihrer Tätigkeit als Vorstandsvorsitzende der Diakonie den Lehrstuhl für Theologie und Ethik in sozialen Handlungsfeldern/Diakoniewissenschaft an der evangelischen Hochschule Ludwigsburg innehatte, sagte dazu: "Ich kann mir eine assistierte Sterbehilfe nur bei unumkehrbarem Verlauf einer Krankheit in schweren Leidenssituationen, die nicht anders zu lindern sind, vorstellen. Auf diese Wünsche der Menschen einzugehen, die sich uns anvertrauen, das wird schwer sein. Mein Vorschlag wäre, die Menschen zu begleiten, komme da, was wolle, ohne sich zum Teil des eines geschäftsmäßigen Betriebs zum assistierten Suizid zu machen."