Jörg Pegelow: "Die Anfragen zum Thema Verschwörungsdenken sind rasant gestiegen"
17. März 2022
Ein Nebeneffekt der Pandemie ist, dass Verschwörungstheorien blühen. Jetzt informieren die evangelischen Weltanschauungsbeauftragten erstmals in einer gemeinsamen Broschüre über verschiedene weltanschauliche Orientierungen und ihre Risiken. Im Interview sagt Jörg Pegelow, Weltanschauungsbeauftragter der Nordkirche, wann eine Strömung gefährlich wird.
Bereits seit 30 Jahren beschäftigt sich Jörg Pegelow mit Weltanschauungsfragen. Schlüsselerlebnis war für ihn damals eine Werbekampagne von Scientology. Inzwischen hat sich seine Arbeitsfeld erweitert – und umfasst auch die Auseinandersetzung mit so genannten Querdenkern und anderen Szenen, die Verschwörungsvorstellungen hegen. In diesem Monat ist eine neue Broschüre zum Thema erschienen, an der er mitgearbeitet hat. Der Titel: Evangelische Orientierung inmitten weltanschaulicher Vielfalt.
nordkirche.de: „Weltanschauliche Orientierung“ statt „Sektenbericht“. In der aktuellen Broschüre vermeiden Sie den Begriff Sekte. Warum?
Jörg Pegelow: Ursprünglich sind Sekten Gemeinschaften oder Bewegungen, die sich vom Christentum abgespalten haben. Diese Definition hat sich in den 1970er Jahren enorm geweitet: Da gab es dann auf einmal Jugendsekten, die Transzendentale Meditation, die Bhagwan-Bewegung oder auch satanische Sekten. Der klassische Sektenbegriff ist inzwischen völlig verwässert: Alles, was religiös, fremd, komisch oder skurril erscheint, wird als Sekte apostrophiert.
Dazu kommt die Frage: Wer darf denn bestimmen, was eine Sekte ist in unserer religiösen Vielfalt? Wir beschreiben deshalb eher ‚Szenen‘ und suchen Überschriften. In der Broschüre sind das ‚Religiöse Gemeinschaften christlicher Herkunft‘, ‚esoterische Weltanschauungen‘ oder ‚Angebote zur Lebenshilfe und Selbstoptimierung‘.
Nach zwei Jahren Pandemie: Wie hat Corona Ihre Arbeit beeinflusst?
Die Anfragen zu sogenannten Verschwörungstheorien sind rasant in die Höhe gegangen. Ich spreche lieber von Verschwörungsvorstellungen oder Verschwörungsdenken, weil der Begriff Theorie eine Form von Wissenschaftlichkeit nahelegt. Die würde ich beim Verschwörungsdenken grundsätzlich in Frage stellen. Dieses Denken ist kein neues Phänomen. Soziologische Studien sprechen von einem Fünftel bis einem Viertel der Menschen, die anfällig dafür sind. Allerdings: Was früher am Stammtisch geteilt wurde, verbreitet sich heute rasant über das Internet, insbesondere die sozialen Medien.
Wer wendet sich an Sie?
Bei mir rufen in aller Regel Angehörige von Leuten an, die sich in dieses Denken verstrickt haben. Meistens sind es Geschwister oder Kinder, die sich um ihre Eltern sorgen. Das entspricht auch dem, was ich bei Demos beobachte.
Pharmakonzerne, Freimaurer oder Reptiloiden, die die Fäden ziehen – was eint all diese Theorien?
Es sind Welterklärungsversuche. Die ‚Querdenker‘ berufen sich auf eine höhere Einsicht und ein Wissen, das dieses Denken abhebt von allem, was die ‚Schlafschafe‘ denken und die ‚Lügenmedien‘ verkünden. Mit dieser Art von Geheimwissen fühlen sie sich zu der Elite gehörig, die hinter den Vorhang schaut. Das Weltbild ist weitgehend geschlossen, Gut und Böse sind deutlich voneinander getrennt.
Das erinnert an die manichäische Weltsicht vieler religiöser Gemeinschaften. Würden Sie sagen, diese Szene hat religiöse Züge?
Wenn auf so einem Schild bei der Sternmarschdemo in Hamburg steht ‚Friede, Freiheit, Selbstbestimmung‘, dann sind das ganz aufgeladene Begriffe, die bestimmte spirituell-religiöse Assoziationen nahelegen. Dazu kommen die Gemeinschaftserfahrungen: Die Demo am Lautsprecherwagen wird eröffnet mit den Worten: „Hier sind so viele schöne Menschen. Es ist ganz toll, mit so vielen schönen Menschen unterwegs zu sein“. Damit wird eine Form von Gemeinschaft zugesprochen und hergestellt.
Was raten Sie den Angehörigen, die bei Ihnen Hilfe suchen?
Es ist wichtig, Brücken aufrecht zu erhalten. Argumentieren führt meist in eine Sackgasse. Stattdessen könnte man fragen: ‚Wovor hast du Angst? Was gibt es dir, wenn du in dieser Demo mitläufst?‘ Also versuchen, den anderen zu verstehen. Und dabei durchaus den eigenen Standort behalten.
Das Gespräch mit anderen schärft für mich, warum ich nüchterner norddeutscher Protestant bin und mich in der Kirche zu Hause fühle. Als Weltanschauungsbeauftragter halte ich es für gut und richtig, sowohl die Möglichkeiten wie auch die Grenzen des Miteinanders so genau wie möglich zu beschreiben. Unsere Broschüre leistet dabei gerade den Kirchengemeinden vor Ort gute Dienste, indem sie die verschiedensten Szenen, Gruppierungen und Gemeinschaften skizziert.
Neben einem allgemeinen Teil bietet die Übersicht auch einen regionalen Schwerpunkt. Welche Gruppierung macht Ihnen und Ihren Kollegen im Moment am meisten zu schaffen?
Das ist die südkoreanische Shinchonji oder Shincheonji, die seit etwa zwei Jahren auf dem Gebiet der Nordkirche missioniert – und zwar gezielt Mitglieder von Kirchen. Diese Neureligion ist unmittelbar verknüpft mit der Person des Gründers Man-Hee Lee, der sich als den verheißenen Pastor der Endzeit sieht. Shinjonchi wächst rasant und wir ordnen sie als hochproblematisch ein. Seit einigen Monaten erhalten verstärkt Pastorinnen, Kirchengemeinderäte bis hin zu Leitenden Einladungen zu Internetseminaren oder Pressekonferenzen. Leute, die auf Instagram eine Kirchengemeinde gelikt haben, werden zu Bibelgesprächen eingeladen, von wem, bleibt unklar.
Hinter dieser Kampagne steht offensichtlich der Versuch, von den Kirchen eine Art ökumenische Unbedenklichkeitsbescheinigung zu erhalten. Dabei sehen die Mitglieder dieser Gruppe die Kirchen als satanisch an, nämlich als Teil der abgefallenen Welt. In den Beratungsgesprächen hören meine Kollegen und ich von Studien- und Berufsabbrüchen oder auch Trennungen.
Was sind denn Alarmzeichen für problematische Gruppierungen?
Aufmerksam werde ich dann, wenn jemand sich vom bisherigen sozialen Umfeld isoliert, wenn zeitlicher und persönlicher Einsatz nicht nur freiwillig gegeben werden, sondern Gemeinschaften rund um die Uhr Einsatz und Engagement erwarten. Auch dann, wenn massive finanzielle Forderungen gestellt werden, wenn Berufswege abgebrochen werden sollen, wenn neue Lebensregeln aufgestellt werden und damit die Möglichkeit zum sozialen Miteinander immer mehr eingeschränkt werden.
„Laut Umfragen glauben mehr Menschen an Engel als an Gott“ steht in einem Kapitel der Broschüre. Engel als Thema für einen Weltanschauungsbeauftragten?
Die biblische Engelsvorstellung ist in die Esoterik ausgewandert. Während in der Bibel die Engel stets zu Gott gehören und auf Gott verweisen wie in der Weihnachtsgeschichte, ist der Engel in der Esoterikzene so etwas wie ein himmlischer Teddybär geworden - ein persönlicher Dienstleister, der vermeintlich all das erfüllt, was man an Wünschen und Sehnsüchten hat. Letztlich sollen diese Engel dazu dienen, den Menschen zu sich selbst finden zu lassen. Dazu braucht es keinen Gott und kein Gegenüber mehr.
Der Mensch möchte auch zu sich selbst finden durch „Angebote zur Lebenshilfe und Selbstoptimierung“, die die Broschüre unter die Lupe nimmt.
Der Druck ist groß, man möge ewig jung und fit bleiben: Wer krank wird, der hat nicht richtig gelebt. In diesem Klima beobachten wir einen Zuwachs von problematischen Lebenshilfeangeboten. Wenn ein Coach verspricht, dass man reich und glücklich und erfolgreich wird, solange man nur diese eine Methode verfolgt, dann ist das einfach unseriös und das Menschenbild, das dahintersteht, mit Skepsis zu betrachten. Menschen sind nicht perfekt und müssen es aus christlicher Sicht nicht sein. Anstatt mit globalen Versprechungen zu arbeiten, orientiert sich seriöses Coaching an der Klientin, arbeitet also mit den vorhandenen Möglichkeiten und Begabungen.