Rollenspiele im Internet - Wer bin ich?
27. Mai 2013
Fast jeder fünfte Schüler in Deutschland ist schon einmal Opfer von Mobbing im Internet geworden. Das belegt eine kürzlich veröffentlichte Studie. In der repräsentativen Untersuchung räumten aber auch 19 Prozent der Schüler ein, selbst einmal Täter gewesen zu sein. Theologe Lukas Ohly über die Gefahren von Schein und Sein im Internet.
Das Internet ist die unendliche Steigerung der Maskierungen. Jeder kann gleichzeitig in verschiedene Rollen schlüpfen: der treue Ehemann sich als Aufreißer probieren und die schüchterne Teenagerin sich für ein virtuelles "Date" verabreden. Dabei weiß niemand, wer wirklich auf der anderen Seite des Bildschirms sitzt, ob die charmante "Mausi86" wirklich die hübsche Studentin ist oder doch eher ein 50-jähriger Mann. Kriminalisten warnen vor Online-Betrug, und Sozialwissenschaftler fragen sich, ob die virtuelle Welt den Menschen wirklich befreit oder doch eher fesselt. Die "Faszination Internet" könnte auch eine Falle sein.
Befreit die virtuelle Welt oder fesselt sie den Nutzer?
Rollen, wie wir sie im Internet einnehmen, können entlasten, schützen aber nicht grenzenlos. Das gilt auch im echten Leben: Die Bedienung im Res-taurant muss niemandem ihre Lebensgeschichte anvertrauen, damit man bei ihr etwas bestellt. Und ihre privaten Interessen gehen hier niemanden etwas an. Darin liegt die entlastende Funktion, wenn Menschen Rollen annehmen. Dennoch schützen sie nicht grenzenlos: Dauert es zu lange, bis die Bedienung das Essen bringt, wird sie doch vom Kunden beleidigt. Und das kränkt sie persönlich. Die Person kann von ihrer Rolle umhüllt werden; dahinter verstecken kann sie sich nicht.
Und so wurde das Internet von vielen Nutzern als Erlösung der Person gefeiert: Rollenkonflikte lassen sich dort nämlich verhindern, indem „Mausi86“ einfach ihren Account löscht und als „Häschen92“ wieder aufersteht. Niemand scheint für seine Streiche im Internet haftbar zu sein, weil es die Person dahinter nicht mehr gibt. Es gibt nur noch Rollen, die von anonymen Usern auf einem virtuellen Spielbrett bewegt werden.
"Ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Du bist mein."
Doch diese „Erlösung“ ist natürlich nur eine Illusion. Hinter jedem anonymen Nutzer steht eine Identifikationsnummer, die ihn eindeutig erkennbar macht. Denn auch im Internet gilt: Die Person muss geschützt werden. Das können Rollen nur bedingt leisten. Deshalb kann die virtuelle Welt den Menschen nicht erlösen. Erlösung ist etwas Unbedingtes, das sich an die Person hinter all ihren Masken wendet. Deshalb richtet sich die jüdisch-christliche Botschaft an die Person und nicht an anonyme Rollen, wenn sie etwa sagt: "Fürchte dich nicht! Ich habe dich erlöst. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Du bist mein."
- Autor Prof Dr. Lukas Ohly ist Pastor in Nidderau (Hessen) und Außerplanmäßiger Professor für Systematische Theologie und Religionsphilosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main