Telefonseelsorge verzeichnet auch im Sommer großen Zulauf
20. Juli 2021
Sommer, Sonne, Strand und Urlaub – für die einen ist es die schönste Zeit des Jahres. Andere Menschen leiden gerade jetzt besonders. Hilfe suchen viele bei der Telefon-Seelsorge Lübeck. Junge Menschen bekommen Unterstützung beim Kinder- und Jugendtelefon der Gemeindediakonie.
Rund 40 Anrufe von Hilfesuchenden nehmen die ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Lübecker Telefon-Seelsorge zurzeit pro Tag entgegen. "Das sind nicht weniger als in anderen Jahreszeiten – eher ein paar mehr“, sagt Pastor Frank Gottschalk, der die Telefon-Seelsorge leitet.
Frohsinn anderer übt Druck aus
"Man könnte vermuten, dass es den Menschen in der warmen Jahreszeit mit dem Mehr an Tageslicht besser geht“, sagt er. "Grundsätzlich ist dies auch hilfreich, doch unsere Erfahrung zeigt, dass es Menschen mit seelischen Belastungen oder psychischen Erkrankungen gerade jetzt häufig auffällig schlecht geht."
Warum dies so sei, lasse sich nach Aussage des 55-Jährigen ungefähr so beantworten: "Die Welt da draußen ist vermeintlich unbeschwert, bunt, die Menschen sind in Sommer- und Urlaubsstimmung. Dadurch wächst bei psychisch Erkrankten der Innendruck, weil sie diese Leichtigkeit und Lebensfreude für ihr eigenes Leben so eben nicht empfinden können."
Mitarbeitende retten Leben
16.000 anonyme Gespräche sind es pro Jahr, die allein in der Hansestadt geführt werden. Bundesweit gibt es 105 Telefon-Seelsorgen – "das zeigt eindrucksvoll, wie groß die Nachfrage ist", betont der Pastor und nennt ein Beispiel: "Es gibt immer wieder Fälle, in denen uns Anrufer berichten, dass das Gespräch mit uns der einzige zwischenmenschliche Kontakt des Tages war. Wir sind für viele Menschen eine ganz wichtige Bezugsgräße."
Die Mitarbeitenden der Telefon-Seelsorge hören den Menschen aber nicht nur zu, mitunter retten sie sogar Leben. "Erst vor wenigen Tagen konnte eine Mitarbeiterin einem jungen Mann am Telefon das Leben retten. Das sind Momente, die niemanden kalt lassen und mich mit Stolz auf meine Kolleg:innen erfüllt", sagt Gottschalk.
Mobbing ist bei Jugendlichen oft Thema
Auch die "Nummer gegen Kummer", das Kinder- und Jugendtelefon der Gemeindediakonie Lübeck, ist derzeit stark frequentiert. "Einsamkeit, Sorgen und Nöte von jungen Menschen sind nicht weg – nur weil die Sonne scheint", sagt Brigitte Bischoff. Die 62-Jährige ist seit acht Jahren Leiterin der Einrichtung. Die 35 ehrenamtlichen Helfer – "von der Studentin bis zum Rentner" – nehmen in Lübeck pro Jahr 10.000 Anrufe entgegen.
Die Bandbreite der Themen ist groß: Von Depressionen über häusliche Gewalt bis zum Liebeskummer ist alles dabei. "Spürbar ist, dass das Thema Mobbing auf dem Schulhof ebenso wie im Internet mehr und mehr in den Fokus rückt“, berichtet Bischoff. Durch intensive Aufklärungsarbeit in den vergangenen Jahren werde immer häufiger auch sexueller Missbrauch in Telefonaten thematisiert. "Hier ist viel Fingerspitzengefühl gefordert, wir ermutigen die Kinder und Jugendlichen, sich aus dieser ganz furchtbaren Situation zu befreien und zeigen Hilfsoptionen auf", so Bischoff.
Corona beinflusst seelische Gesundheit
Die Folgen der Corona-Pandemie werden auch beim Kinder- und Jugendtelefon spürbar. "Wir bekommen es häufiger mit psychisch auffälligen Heranwachsenden zu tun, denen ganz offenkundig während der langen Lockdown-Phasen ein Regulativ in der Außenwelt gefehlt hat", berichtet die Leiterin. Welche tatsächlichen Folgen dies für die seelische Gesundheit vieler Kinder und Jugendlicher haben wird, sei noch nicht abzusehen – "zumal das Thema Corona ja noch nicht zu Ende ist".
Im kommenden Jahr wird das Kinder- und Jugendtelefon in Lübeck 40 Jahre alt. Zurzeit findet bei der "Nummer gegen Kummer", dem Dachverband der Kinder- und Jugendtelefone, ein Modellversuch statt, der nach Aussage von Brigitte Bischoff schon jetzt ein Erfolg ist. "Wir bieten zukünftig neben Gesprächen am Telefon und der Email-Beratung auch Beratungen per Chat an – und die Resonanz ist weit mehr als gut."