Ukraine-Krieg: "Ich kann die Situation nicht kontrollieren"
14. Februar 2023
Tausende Frauen und Kinder aus der Ukraine haben in Schleswig-Holstein eine Zuflucht gefunden. Jetzt hat die Diakonie im Kirchenkreis Schleswig-Flensburg ein neues Hilfsangebot aufgesetzt.
Neues Angebot der Diakonie für ukrainische Familien
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„Ich dachte, wir würden im Mai zurückgehen können“, erinnert sich Ganna Lochokka. Sie war am 11. März mit ihrem Sohn Igor aus der Ukraine nach Deutschland geflüchtet, nachdem Russland das Land angegriffen hatte. Doch immer wieder verschob sich die Abreise. Dann wurde ihr bewusst: Sie kann es selbst nicht steuern, sie ist gezwungen, abzuwarten, bis der Krieg in ihrer Heimat beendet ist.
Angst um Verwandte in der Ukraine
Als Geflüchtete seien sie in Schleswig-Holstein zwar gut aufgenommen worden - doch die Angst um die Verwandten zu Hause bleibt. Und die Erfahrungen durch Vertreibung und Flucht belasten die Seele.
Deutsch lernen ist eine große Herausforderung
Eines der dringendsten Probleme, mit denen die ukrainischen Familien Tag für Tag zu kämpfen haben, sei die deutsche Sprache, sagt Lochokka. „Wir haben über sechs Monate unseren Sprachkurs, aber die Leute sind trotzdem überhaupt nicht in der Lage, Deutsch zu sprechen“, schildert die 41-Jährige, die in der Ukraine als Betriebswirtin arbeitete. „Das ist für uns eine große Herausforderung.“
Hinzu kommt die Sorge darum, was in der fernen Heimat vor sich geht. „Ist meine Familie noch am Leben, steht unser Haus noch? Wenn ich die Nachrichten sehe, habe ich das Gefühl, ich könnte die Situation kontrollieren - aber das ist eine Illusion, das kann ich nicht wirklich.“
Die kleine Familie stammt aus Saporischja, einer Stadt im Süden der Ukraine. Der Ehemann blieb zurück, er arbeitet für die Caritas und hilft Familien, deren Angehörige in der Armee kämpfen, ebenso wie Menschen aus den ehemals russisch besetzten Gebieten. „Wir haben uns bereits über ein Jahr lang nicht gesehen.“
Diakonie bietet psychosoziale Unterstützung an
Wie Ganna und Igor geht es vielen ukrainischen Geflüchteten. Um deren Situation zu verbessern, bietet das Diakonische Werk des Kirchenkreises Schleswig-Flensburg ab sofort eine psychosoziale Unterstützung an, um diese Probleme zu bewältigen: In Schleswig und Flensburg sind einmal in der Woche Familien mit Kindern, Jugendlichen und deren Mütter eingeladen, sich kennenzulernen, zu spielen und, wenn gewünscht, auch in Einzelgesprächen über das Erlebte zu sprechen. Und zwar in russischer Sprache: Eigens dafür stehen zwei Frauen zur Verfügung, die fließend Russisch sprechen.
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„Die Menschen leben in zwei Welten“, erläutert Christine Le Coutre, die die diakonische Erziehungs- und Familienberatung in Schleswig leitet: „Zu realisieren, dass der Aufenthalt hier mehr Zeit in Anspruch nehmen wird als gedacht, ist vielleicht eine der größten Herausforderungen für die Geflüchteten.“ Das russischsprachige Gruppentreffen soll Abhilfe schaffen - und einen Zugang zu den Menschen, die solche Angebote kaum gewohnt sind.
Raum für Gespräche
Es gehe darum, einen Raum anzubieten für Mütter, um über ihre Erfahrungen seit der Flucht sprechen zu können, und für die Kinder einen Raum zum Spielen. Le Coutre: „Wir wollen die Menschen mit dieser traumasensiblen Gruppe stärken und ihnen klarmachen: Sie haben nicht nur vieles verloren, sie haben auch Ressourcen, die sie nutzen können, um ihre Situation selbstwirksam zu verbessern.“ Das russische Gesprächsangebot findet dienstags in dem Angeliter Ort Süderbrarup und donnerstags in Schleswig statt.
Auch die hiesige Bürokratie sei ein Problem für die Geflüchteten. „Wenn wir mit öffentlichen Stellen zu tun haben, wissen die Mitarbeiter manchmal gar nicht, dass es uns gibt.“ Vielleicht liegt es daran, dass Ganna Lochokka und ihr Sohn so früh kamen. Offenbar wurden sie anfangs nicht registriert - das wirke sich bis heute aus, so Lochokka, etwa bei der Krankenversicherung.
Aber es gebe in Deutschland auch manches Neue, das die Flüchtlinge lernten. Die Deutschen hätten beispielsweise ein gutes Benehmen, seien höflich. Sie wünschen sich einen guten Morgen - das gebe es in der Ukraine oft nicht. „Das sollten wir mit zurück in die Ukraine nehmen“, findet Lochokka.