Zur Kur an die Nordsee: Auszeit für Mütter nötiger denn je
25. April 2022
So erschöpft wie momentan hat das Team im evangelischen Kurzentrum "Gode Tied" Mütter, die hier zur Kur kommen, selten erlebt. Die Corona-Pandemie hat ihre Spuren in den Familien hinterlassen. Homeschooling und Homeoffice, geschlossene Schulen und Kitas - besonders die Frauen haben einen Großteil der zusätzlichen Aufgaben in den Familien getragen. In Büsum an der Nordseeküste bekommen sie Hilfe.
"Gode Tied" ist Plattdeutsch für "Gute Zeit" und genau die sollen die Frauen mit ihren Kindern hier haben. Katrin Schmidt ist seit 2016 Geschäftsführerin von "Gode Tied". In ihrer Einrichtung in Büsum ist Platz für insgesamt 40 Frauen mit bis zu 70 Kindern.
Das Kurzentrum liegt mitten in einem Wohngebiet im Ort. Zum Nordseestrand sind es etwa zehn Minuten zu Fuß, auch die Bimmelbahn für Touristen, der "Krabbenexpress", hält mehrmals täglich direkt vor der Tür. 2020 wurden alle Zimmer saniert und neu eingerichtet. "Die Frauen sollen sich beim Ankommen direkt wohlfühlen und sich auf die Zeit hier freuen", erläutert Schmidt.
Die Mütter kommen aus allen gesellschaftlichen Schichten, um sich zu erholen. "Ob Lehrerinnen, Erzieherinnen, Krankenschwestern oder Ärztinnen, die Belastung der Frauen hat durch die Pandemie massiv zugenommen", so die Leiterin. Die meisten Frauen, die hier zur Kur kommen, sind berufstätig. Sie müssen den Job, die Kinder und nicht selten auch noch die Pflege ihrer alt werdenden eigenen Eltern unter einen Hut bekommen. Eigentlich sei "Gode Tied" ja eine Einrichtung zur Vorsorge, doch viele Frauen seinen schon so erschöpft, dass es schon eher um die Behandlung der Symptome geht, als um die Prävention.
Lydia Wolff ist zum ersten Mal in einer Mutter-Kind-Kur und auch zum ersten Mal an der Nordsee. Mit ihrem Sohn ist die bei der Kinder- und Jugendhilfe tätige Sozialpädagogin sieben Stunden gefahren, um sich hier am Meer zu erholen.
"Ich habe vor einem Jahr den Entschluss gefasst, eine Kur zu beantragen, meine Schwester hat mich motiviert", berichtet die aus Sachsen stammende 42-Jährige. Job und Kind in der Pandemie unter einen Hut zu bekommen, sei anstrengend gewesen: "Es ist wenig Kraft übrig geblieben, die Pandemie hat das Gefühl verstärkt. Vieles ist weggefallen, was Spaß macht. Besuche bei Freunden, im Schwimmbad oder auch Urlaube". Vielleicht sei das der Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat.
"Jede der Frauen hier hat ihren Rucksack zu tragen. Die Mütter haben ähnliches erlebt, viele sind an ihre Grenzen gekommen. Das Bild der ewig starken Mutter ist in uns verankert", sagt Wolff. Hier in der Kur könne sie jenseits vom Alltag auch ihr Kind neu kennenlernen: "Man spürt auch bei den Kindern die Freude. Sie sammeln neue Erlebnisse, haben einen Ausflug zum Watt gemacht".
In der Kur könne sie loslassen und habe auch gelernt, sich bewusst selbst Pausen zu nehmen und die eigenen Gedanken zu ordnen. "Das Leben im Hier und Jetzt ist das Wichtigste", sagt sie. Das wolle sie auch in ihren Alltag zurück in Dresden mitnehmen.
Ein Team aus Ärzten, Psychologen und Physiotherapeuten kümmert sich um die gesundheitlichen und psychischen Probleme der Frauen und auch Kinder. "Keine Mutter kommt hier ohne Rückenschmerzen an", weiß die leitende Ärztin Dr. Antje Busch zu berichten. Die Dermatologin ist im engen Kontakt mit den Frauen.
"Die psychische Belastung für Frauen hat in den vergangenen Jahren zugenommen. Sie sind sehr sensibel und redebedürftig und bringen eine massive Erschöpfung mit, die ich in den fast 20 Jahren, die ich hier bin, noch nie so erlebt habe." Verstärkt durch die Pandemie seien viele Mütter nur noch gehetzt und hätten gar keine Zeit mehr in sich hinein zu horchen. „Wenn sie hier sind, kommt ganz viel raus. Sie bemerken, in was für einem Hamsterrad sie stecken. Wir merken sehr stark, dass die ganze Familienarbeit während der Pandemie überwiegend bei den Frauen gelandet ist.“
Eine ganzheitliche Therapie steht in der Kur im Vordergrund, sie wird individuell zusammengestellt. Die Behandlung von Adipositas, Atemwegs- und Hauterkrankungen gehören genauso dazu wie Schlaftraining oder Trauerarbeit für Mütter und Kinder. Rund 50 Prozent der Kinder werden auch behandelt, sei es bei Asthma, Neurodermitis oder der Bewälting von Trauer. Die Pädagogin, Trauerbegleiterin und Leiterin des „Kinder- und Jugendlandes“ vom Kurzentrum, Ute Nehls-Eschner, begleitet die Kinder. Sie können ihren Gefühlen Zeit und Raum geben und besprechen, was sie bedrückt.
Bei ihrer ersten Kur vor rund acht Jahren stand Ann Schulte kurz vor dem Burnout. Jetzt ist die Pfarrerin zum dritten Mal in Büsum. Ihr gefällt es, dass das Haus nicht so groß ist und dass es am Meer liegt.
Eine Trennung, ein Umzug verbunden mit einer neuen Stelle und einer neuen Schule liegen hinter der Familie. "Als ich mich entschieden habe ein drittes Mal zur Kur zu fahren, da waren vorher schon Fragen im Kopf, kann ich es wirklich machen? Nimmst du jemandem den Kurplatz weg? Und dann dachte ich aber, niemand bringt mir die Wertschätzung entgegen für meine Erziehungsarbeit, wenn ich das nicht selber mache."
Die alleinerziehende Mutter von drei Söhnen aus dem hessischen Maintal Wachenbuchen ist mit ihrem jüngsten Kind gekommen. Ihr Sohn wird bald 13, daher ist es für die Familie auch die letzte mögliche gemeinsame Mutter-Kind-Kur. "Ich merke, dass ich in dieser dritten Kur viel entspannter bin, da ich ja wusste, was mich erwartet."
"Pausen sind wichtig"
Ann Schulte weiß daher auch, dass die eigentliche Arbeit ja erst nach der Kur anfängt, wenn es darum geht, Gelerntes in seinen Alltag zu integrieren. "Pausen sind wichtig, eigene Ansprüche sind nicht so wichtig. Prioritäten setzen, was ich in der aktuellen Lebensphase voran bringen will, und da meine ich nicht die Karriere", so die 45-Jährige. Ein Gleichgewicht zwischen den Wünschen ihres Kindes und den eigenen zu finden, sei auch wichtig.
Die Pfarrerin sieht viele Gründe für die Notwendigkeit einer Kur auch in der Gesellschaft. "Es geht um Gleichberechtigung von Mann und Frau, um gleichen Lohn für gleiche Arbeit, höheren Lohn für Berufe in sozialen Einrichtungen. Ich finde auch alle vier Jahre eine Kur ist zu wenig. Pauschal jedes zweite Jahr würde eine Wertschätzung deutlich machen".
Drei Wochen unbeschwerte Zeit
„Die Müttergenesung ist eine so wertvolle Institution die man wirklich hochhalten muss, weil es den Müttern so sehr hilft. Drei Wochen unbeschwerte Zeit mit ihren Kindern zu verbringen, losgelöst vom Alltag. Die Frauen müssen nicht ständig was tun, es reicht, dass sie da sind“, so Dermatologin Busch. Was die Frauen aus der Kur mitnehmen können? Sie bekommen Ideen, wie sie sich selbst im Alltag entlasten können.