Kirchenasyl

Kirchengemeinde Stockelsdorf: „Barmherzigkeit und Menschenwürde sind nicht verhandelbar“

"Es ist wichtig, auch gute Geschichten zu hören und zu sehen. Diese Geschichten müssen wir auch erzählen," sagte Bischöfin Nora Steen bei Ihrem Besuch in der Kirchengemeinde Stockelsdorf.
"Es ist wichtig, auch gute Geschichten zu hören und zu sehen. Diese Geschichten müssen wir auch erzählen," sagte Bischöfin Nora Steen bei Ihrem Besuch in der Kirchengemeinde Stockelsdorf.© Antje Wendt, Nordkirche

20. Dezember 2023 von Antje Wendt

Die Kirchengemeinde Stockelsdorf engagiert sich stark in der Arbeit mit Geflüchteten – vom Sprachkurs bis zum Kirchenasyl. Bischöfin Nora Steen besuchte die Kirchengemeinde und ließ sich von den Menschen vor Ort von ihrer Arbeit erzählen.

Für die meisten Kirchengemeinden der Nordkirche brachten die Jahre 2015 und 2016 besondere Herausforderungen mit sich. Doch die große Anzahl von geflüchteten Menschen aus den syrischen Kriegsgebieten traf hier auf eine unerwartet große Welle von Hilfsbereitschaft und Engagement, oftmals getragen von Menschen, die immer schon in ihren Gemeinden ehrenamtlich aktiv waren, oder die in diesem Moment dazukam.

Viele Jahre Einsatz für Geflüchtete

Pastorin Almuth Jürgensen aus der Kirchengemeinde Stockelsdorf blickt mittlerweile auf fast zehn Jahre Einsatz für Geflüchtete zurück, unterstützt von einer sehr großen Anzahl von motivierten Ehrenamtlichen.

Die Hilfe umfasst viele verschiedene und miteinander vernetzte Formate und Angebote: Während die einen für eine gut sortierte Kleiderstube sorgen, sind andere als Kultur- und Sprachvermittler:innen in der KiTa unterwegs, begleiten Geflüchtete oder bieten in Kooperation mit der Kommune einen Sprachkurs für geflüchtete Mütter mit Kindern an.

Eine wichtige Rolle spielen auch Sponsor:innen, die die notwendige finanzielle Unterstützung leisten. Als Gründe für ihr Engagement nennen die Ehrenamtlichen beim Besuch der Bischöfin, dass es ein gutes Gefühl sei, mit so vielen motivierten Menschen zusammen zu arbeiten oder durch die Arbeit zu erkennen, worauf es wirklich ankomme.

Ali Sultani, ehemaliger Geflüchteter, berichtet von seinem Werdegang. Er hat mittlerweile einen eigenen Betrieb mit acht Angestellten und engagiert sich für Geflüchtete.
Ali Sultani, ehemaliger Geflüchteter, berichtet von seinem Werdegang. Er hat mittlerweile einen eigenen Betrieb mit acht Angestellten und engagiert sich für Geflüchtete.© Antje Wendt, Nordkirche

„Gelebte Solidarität“

Nora Steen, Bischöfin im Sprengel Schleswig und Holstein der Nordkirche, meint: „Angesichts der vielen Menschen, die vor Krieg, Verfolgung und Not fliehen, wird die Frage nach der Nächstenliebe greifbar.

Gerade in der Flüchtlingshilfe, wie hier in Stockelsdorf oder auch in anderen Kirchengemeinden, wurde und wird dabei Großartiges geleistet. Diese gelebte Solidarität ist die Konsequenz ihres Glaubens, in dem Barmherzigkeit und Menschenwürde nicht verhandelbar sind.

Hier vor Ort konnte ich erfahren, wie dieser großartige Einsatz wunderbare Früchte trägt und alle Beteiligten reicher machen kann. Und besonders vor dem Eindruck der Ereignisse in Schwerin am gestrigen Mittwoch wird noch einmal deutlich, wie wichtig es ist, auch gute Geschichten zu hören und zu sehen. Diese Geschichten müssen wir ebenfalls erzählen.“

Kirchenasyl – Verantwortung übernehmen

Seit dem Frühjahr 2023 bietet die Kirchengemeinde auch den Rahmen für ein Kirchenasyl. Für die Beteiligten ist dies keine einfache Situation. Während die betroffenen Personen sich auf eine Zeit der räumlichen Beschränkung einstellen müssen, steht die Kirchengemeinde in vielfacher Verantwortung für diese Menschen.

Diese Verantwortung erleben auch Jens Mahler und Ulrike Bauer aus dem Kirchengemeinderat Stockelsdorf.

Jens Mahler und Ulrike Bauer sind Kirchengemeinderatsmitglieder. Sie berichten Bischöfin Steen von ihrem unterschiedlichen Engagement bei der Durchführung des Kirchenasyls.
Jens Mahler und Ulrike Bauer sind Kirchengemeinderatsmitglieder. Sie berichten Bischöfin Steen von ihrem unterschiedlichen Engagement bei der Durchführung des Kirchenasyls. © Antje Wendt, Nordkirche

„Ich besuche die Menschen im Kirchenasyl ein- bis zweimal in der Woche. Sie sind hochmotiviert, die deutsche Sprache zu erlernen oder zu verbessern,“ erzählt die ehemalige Grundschullehrerin Ulrike Bauer. „Natürlich sprechen wir auch über ՙAlltagsproblemeՙ, wenn sie sich gerade ergeben.

Schön ist, dass man eine persönliche Beziehung aufbaut, die teilweise auch über das Kirchenasyl hinaus besteht. Für unsere Gäste ist es schön, dass sie von so vielen Besucherinnen und Besuchern betreut werden. Jeder hat eine andere Stärke und kann diese weitergeben.“

"Fußball ist verbindendes Thema"

Für Jens Mahler, der in seinem Berufsleben in verschiedenen Gewerkschaften tätig war, ist es ein wichtiges Anliegen, die Zeit eines Kirchenasyls zu nutzen, um den Gästen im Kirchenasyl einen realistischen Einblick in die Aufnahmegesellschaft zu vermitteln.

„Mir sind Themen wie Antisemitismus und Rassismus, Homophobie oder Gleichberechtigung von Frauen wichtige Anliegen. Die Bearbeitung sehe ich als unabdingbar an, um den (hoffentlich möglichen) Integrationsprozess zu unterstützen.

Ansonsten sind der internationale Fußball und seine Entwicklung ein wunderbar verbindendes Thema bei meinen Gesprächen mit den Geflüchteten.

Damit beginne ich immer beim ersten Kontakt, denn die Menschen haben ja oft sehr schwierige Fluchterfahrungen hinter sich.“

Inhumane Behandlung

Zu den Menschen, die in Stockelsdorf im Kirchenasyl waren, gehören Wajih J. und Sulaiman S. Beide erzählen von grausamer, inhumaner Behandlung in den osteuropäischen Ländern, in denen sie zunächst Asyl beantragt hatten.

Durch die Gewährung von Kirchenasyl in der Kirchengemeinde Stockelsdorf sind sie vor einer Abschiebung dorthin bewahrt worden, wo ihnen Gefahr für Leib und Leben gedroht hätte.

"Ich will nicht töten oder getötet werden"

Zu den Gründen seiner Flucht erzählt der Syrer Wajih J.: „Man kann täglich entführt und willkürlich verhaftet werden. Auch wegen des drohenden Wehrdienstes bin ich geflohen. Ich will nicht töten und auch nicht getötet werden. Bei einer Rückkehr nach Syrien würde ich sofort verhaftet werden und müsste dann meinen Wehrdienst antreten.“

Wajih J. und Sulaiman S. erzählten der Bischöfin, wie dankbar sie sind für die Chance, die ihnen das Kirchenasyl eröffnet hat. Sie konzentrieren sich nun darauf, ihre Deutschkenntnisse weiter zu verbessern und hoffentlich bald in ihrem Beruf arbeiten zu können oder eine Ausbildung zu machen.

Wajih J. und Sulaiman S. wurden während ihres Kirchenasyls häufig von Ulrike Bauer besucht.
Wajih J. und Sulaiman S. wurden während ihres Kirchenasyls häufig von Ulrike Bauer besucht.© Antje Wendt, Nordkirche

Zahlreiche Anfragen

Daniel Hettwich ist Flüchtlingsbeauftragter im Kirchenkreis Ostholstein. Er berichtete, dass ihn bei weitem mehr Anfragen von schutzsuchenden Menschen für ein mögliches Kirchenasyl als Aufnahmemöglichkeiten erreichen.

„Bis zu acht Anfragen täglich von kirchlichen und außerkirchlichen Helferkreisen, von Betroffenen selbst oder auch Rechtsanwälten erreichen mich mit der Bitte um Kirchenasyl.

So bin ich gezwungen, eine ՙAusleseՙ zu treffen, bevor ich mich an die Kirchengemeinden des Kirchenkreises wende – eine Aufgabe, die mich des Öfteren schmerzt und betroffen macht. 

Alleinreisende Frauen, kranke, schutzsuchende Menschen und Familien mit kleinen Kindern werden von mir ՙbesondersՙ bedacht.“

Daniel Hettwich, Flüchtlingsbeauftragter im Kirchenkreis Ostholstein, mit Propst Peter Barz und Julia Samtleben, Bürgermeisterin von Stockelsdorf.
Daniel Hettwich, Flüchtlingsbeauftragter im Kirchenkreis Ostholstein, mit Propst Peter Barz und Julia Samtleben, Bürgermeisterin von Stockelsdorf. Sie erzählt, sie sei froh, dass ihre Gemeinde Kirchenasyl anbiete und im Gegensatz zu vielen anderen Kommunen ein Inklusionskonzept habe. © Antje Wendt, Nordkirche

"Wir schenken Nächstenliebe"

Pastorin Almuth Jürgensen weiß, dass die Geflüchteten oft mit schweren Fluchtgeschichten, die sie verarbeiten müssen, ankommen. Zusätzlich leben sie akut in Angst, in die Länder rücküberführt zu werden, in denen sie bereits schlecht behandelt wurden und ein erfolgreicher Antrag auf Asyl kaum in Sicht ist.

Auch vermissen sie ihre Familien. „Zu erleben, wie sie sich im sicheren Ort, dem Kirchenasyl, erholen, ist sehr berührend. Wir schenken ihnen Aufmerksamkeit und, ganz praktisch: Essen und Wohnen.“

“Und wir schenken Nächstenliebe und erleben, wie die, die wir im Kirchenasyl hatten, sich ganz konkret als Kultur- und Sprachmittler an den Orten einbringen, wo sie anschließend leben. Darin erkennen wir beispielsweise den Erfolg unserer Arbeit,“ resümiert Pastorin Jürgensen.

Pastorin Almuth Jürgensen sagte in der großen Runde beim Besuch der Bischöfin, dass alle, die zum Kreis der Unterstützenden gehören, das Gefühl hätten, "einfach Mensch zu sein."© Antje Wendt, Nordkirche

Hintergrund zum Kirchenasyl

Bevor ein Kirchenasyl gewährt wird, lässt sich die Kirchengemeinde gut beraten und jeden konkreten Einzelfall genau prüfen. Ein Kirchenasyl wird vom Kirchengemeinderat beschlossen – die Entscheidung wird also direkt vor Ort gefällt. Dabei gilt, dass mit dem Kirchenasyl Zeit für eine erneute Überprüfung gewonnen werden soll, weil die berechtigte Annahme besteht, dass es sich um einen besonderen Härtefall handelt.

Meist handelt es sich um so genannte ՙDublinfälleՙ, bei dem ein Asylantrag bereits in einem anderen europäischen Land gestellt wurde, bei einer Rückkehr dorthin aber Repressalien oder Gewalt für die geflüchtete Person zu befürchten sind. Hier bedeutet der positive Ausgang eines Kirchenasyls, dass Deutschland für die Prüfung der Asylgründe zuständig wird.

Der Staat toleriert das Kirchenasyl, bei dem Kirchengemeinden Geflüchteten Wohnraum bieten und sie versorgen, obwohl er grundsätzlich von seinem Zugriffsrecht Gebrauch machen und abschieben kann. Um gemeinsam zu guten humanitären Lösungen kommen zu können, wurde 2015 eine Verfahrensabsprache zwischen BAMF und den Kirchen getroffen.

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